Episode 1: Eine Frage des Eigentums – Zwischen Raub und Recht
Shownotes
Die erste Folge geht der Frage nach, was eigentlich wem nach dem Untergang eines Terrorregimes gehört. Also warum die Rückerstattung von Häusern und sonstigen Gütern an Betroffene nationalsozialistischer Verbrechen essenziell war, um aus einer Diktatur eine rechtsstaatliche Demokratie zu machen. Rückerstattungsverfahren in dieser Dimension hatte es bis dahin noch nicht gegeben, und sie hielten oft vielfältige Hürden und Probleme für die Betroffenen bereit.
Dazu werden Akten aus dem Bundesarchiv aufgeschlagen und der Historiker Jürgen Lillteicher über den Beginn der Wiedergutmachung befragt. Der Jurist Benjamin Lahusen wirft einen Blick in die damaligen Gerichtssäle und die Provenienzforscherinnen Susanne Kiel und Kathrin Kleibl berichten über den Umgang mit dem Umzugsgut Verfolgter, das bei Kriegsausbruch in deutschen Häfen beschlagnahmt worden war.
Zu den Ereignissen und Personen
- Kommentiertes Kurzprotokoll über die Kabinettssitzung am 21. Dezember 1949 in der Online-Edition „Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“: Link
- Note des Bundesministers der Justiz, Thomas Dehler, zum Tagungsordnungspunkt 6 der Sitzung des Bundeskabinetts am 21. Dezember 1949, 21. Dezember 1949 (BArch, B 141/407, Bl. 19): PDF
- Schreiben des Bundesministers der Justiz, Thomas Dehler, an den Staatssekretär des Innern im Bundeskanzleramt, 1. Mai 1950 (BArch, B 141/408, Bl. 19–22): PDF
- Informationen zur Familie Kloppstock in der Lost-Lift-Datenbank: Link
Links
- Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“: Link
- Bundesarchiv: Link
- AlliiertenMuseum: Link
- EVZ-Projekt „Recht ohne Raub. Geschichte und Gegenwart der Rückerstattung von NS-Raubgut“: Link
Literatur zum Thema
- Lillteicher, Jürgen: Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie über Verfolgungserfahrung, Rechtsstaatlichkeit und Vergangenheitspolitik 1945–1971. Dissertation Universität Freiburg Wintersemester 2002/2003. Online-Version
- Schleier, Bettina: Das Umzugsgut jüdischer Auswanderer – von der Enteignung zur Rückerstattung, in: Bremisches Jahrbuch 77 (1998), S. 247–265. Online-Version
Weitere Infos zur Podcast-Folge: https://www.archivportal-d.de/content/themenportale/wiedergutmachung/podcast
Moderation: Nora Hespers, Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha - Kultur fürs Ohr. Cover: Kreativagentur Atelier Hauer+Dörfler GmbH. Coverbild: Antragsteller bei der URO (© bpk) | Bundesarchiv
Der Podcast „The German Wiedergutmachung“ ist eine Produktion für das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ – der Online-Plattform für Wiedergutmachungsakten, konzipiert und in Auftrag gegeben durch das Bundesarchiv. Die Umsetzung gestaltete Escucha – Kultur fürs Ohr. Die Finanzierung erfolgte durch das Bundesministerium der Finanzen.
Transkript anzeigen
Podcast „The German Wiedergutmachung“
Episode 1: Eine Frage des Eigentums – Zwischen Raub und Recht
[neutrale Doku-Musik, Akte wird aufgeschlagen]
[Sebastian Gleixner:]
„Ja, ich les mal vor. Also hier schreibt er eben: die Wiedergutmachungsgesetzgebung erfuhr im Kabinett eine sehr widerspruchsvolle Beurteilung.“
[Susanne Kiel:]
„Das ist auch immer ein sehr trauriger Moment in den Recherchen, wenn man sieht, die haben sich sehr bemüht und sehr gekämpft um ihre Ansprüche und es dann nicht mehr mitbekommen haben.“
[Jürgen Lillteicher:]
„Man spricht ja immer von den ruhigen 50er Jahren, in denen die Vergangenheit keine Rolle gespielt hätte, das Schweigen. Und wenn man aber da in deutsche Gerichtssäle guckt, ist es genau das Gegenteil. Also es sind zigtausend Verfahren geschehen im Rahmen der Restitution, wo sich genau über die Vergangenheit auseinandergesetzt wurde.“
[Benjamin Lahusen:]
„Und deswegen ist dort anders als man ja vielleicht denken mag, weil viele immer so intuitiv den Eindruck haben, da wäre schon so unglaublich viel passiert. Deutschland hatte schon so viel wiedergutgemacht und so, das gilt für diesen Bereich eben gerade nicht und konnte davor eben nicht gelten.“
Es ist ein Echo, das bis in die Gegenwart hallt. In diesem Podcast geht es um die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland mit Menschen umgegangen ist, die die Verbrechen der NS-Herrschaft überlebt haben. Menschen, die von den Nazis beraubt und entrechtet wurden und die ihre Angehörigen durch Verbrechen verloren haben. Es geht um das zähe Ringen der Übernahme von Verantwortung.
Mein Name ist Nora Hespers, ich bin Journalistin und Autorin. Und mein Großvater Theo wurde 1943 von den Nazis ermordet. Auch meine Familie hat lange um Entschädigung gekämpft für das erlittene Unrecht. Um einen Akt der Wiedergutmachung. Auch wenn natürlich nichts einen Mord wieder gut macht. Dennoch, die Prozesse rund um diese Entschädigung, die sind wirklich aufschlussreich, und in diesem Podcast möchte ich gemeinsam mit euch besser verstehen, wie das damals gelaufen ist. Das ist:
[Intro Audio ID: Podcast Title TBA]
„The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“.
Folge 1: Eine Frage des Eigentums: Zwischen Raub und Recht.
Bei der Wiedergutmachung geht es um Millionen Anträge. Sehr viele wurden gerade in den ersten Jahren oft abgelehnt. Es geht um enttäuschte Hoffnungen, aber auch um viele Milliarden Zahlungen an Personen und Organisationen.
Aber: Natürlich lassen sich die Verbrechen nicht durch Geld wiedergutmachen. Und das ist der Grund, warum der Begriff „Wiedergutmachung“ umstritten ist und immer sein wird. Aber nicht nur Forschung und Wissenschaft haben diesen Begriff übernommen, auch die allgemeine Öffentlichkeit. Weil er als einziger die unterschiedlichen Facetten des Umgangs mit den Folgen des Nationalsozialismus umfasst.
Auch im Ausland wird mitunter „Wiedergutmachung“ als Begriff auf Deutsch verwandt, darum sprechen wir hier von „The German Wiedergutmachung“. Ein politisch und gesellschaftlich steiniger Prozess, der für die Geschichte der Bundesrepublik von großer Bedeutung ist und immer unzureichend, niemals abgeschlossen sein wird.
[neutrale Doku-Musik]
Dazu kommen hier Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft zu Wort, wir erleben Orte, die exemplarisch für die Wiedergutmachung stehen. Und die Recherche die beginnt in Koblenz, im Bundesarchiv. Hier und in vielen anderen Archiven liegen Millionen Anträge und Bearbeitungen zur Wiedergutmachung. Im Bundesarchiv gibt es aber auch die Akten, die die politischen Entscheidungswege rund um die Wiedergutmachung nachvollziehbar machen. All diese Unterlagen werden im Themenportal digital zugänglich gemacht.
[Atmo-Töne aus dem Archiv: Akte wird aufgeschlagen]
[Sebastian Gleixner:]
„Hier zum Beispiel, hier geht es los, ja. Also man sieht hier schon ganz deutlich, es ist 1949, das Papier ist nicht gerade so optimal. Ähm. Das dürfte auch für die Bestandserhaltung eine Herausforderung sein. Es war einfach doch sehr prekär, die Lage damals. Und dann geht es eben los. Oben der Kopf: Kurzprotokoll, Ort, der Vorsitz. Das war natürlich der Bundeskanzler, wenn er denn da war.“
Das ist Sebastian Gleixner. Er ist Historiker und Archivar und leitet die Edition der Kabinettsprotokolle im Bundesarchiv in Koblenz. Vor ihm liegt ein dicker Stapel an Akten. Die Kabinettsprotokolle, wie der Name schon sagt, sind Aufzeichnungen über die Sitzungen des Bundeskabinetts, an denen die Ministerinnen und Minister teilnehmen und die vom Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin geleitet werden. Sebastian Gleixner hat ein besonders altes Dokument über die Kabinettssitzung vom 21. Dezember 1949 ausgewählt. Es liegt in einer der Akten, die sich vor ihm aufgeschlagen auf dem Tisch befinden. Das Papier ist dünn, stark vergilbt und mit einer Schreibmaschine beschrieben.
[Sebastian Gleixner:]
„Hier steht zum Beispiel interessanterweise dann schon der Bundeskanzler, zeitweise der Vizekanzler, das heißt, der Bundeskanzler muss zwischendurch mal weggewesen sein, und dann die einzelnen Teilnehmer. Das ist eine ausgesprochen kleine Runde damals gewesen, also das wird dann später deutlich mehr.“
Konrad Adenauer ist zu dieser Zeit Bundeskanzler und die Bundesrepublik gerade einmal wenige Monate alt. Das Protokoll umfasst nur einige Seiten und ist nicht besonders ausführlich. Doch ein auf den ersten Blick unscheinbarer Tagesordnungspunkt, der sechste, der ist besonders wichtig:
[Sebastian Gleixner:]
„Und dann haben wir hier eben zu dem Wiedergutmachungsthema gerade mal zwei Sätze: ‚Die Zweckmäßigkeit einer Vereinheitlichung des Rückerstattungsrechts wird erörtert. Der Bundesminister der Justiz wird ersucht, eine Zusammenstellung des in den einzelnen Ländern und Zonen geltenden Wiedergutmachungsrechts ausarbeiten zu lassen.‘ Das war's.“
Was Sebastian Gleixner gerade vorgelesen hat, ist eine echte Neuheit im Bundeskabinett. Zum ersten Mal wird auf dieser hohen Ebene das Thema Wiedergutmachung thematisiert, in diesem Fall speziell die Rückerstattung. Also die Frage, wie Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt und beraubt wurden, ihr Eigentum zurückbekommen oder Schadensersatz dafür erhalten können.
Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Aspekte der Wiedergutmachung wie zum Beispiel die Entschädigung, also Zahlungen für körperliche Schädigungen, für Haft zum Beispiel in einem KZ, und so weiter. Dazu hört ihr mehr in den kommenden Folgen. In dieser Folge geht es um Rückerstattung, weil sie eine der frühesten und direktesten Formen der Wiedergutmachung ist.
Zurück zur Akte:
[neutrale Doku-Musik]
Bis solche politischen Fragestellungen ins Kabinett kommen, ist es ein langer Weg: Zum Beispiel Korrespondenzen zwischen den Ministerien, bilaterale Gespräche zwischen Staatssekretären und Ministern. Das alles heute historisch nachvollziehen zu können, ist extrem aufwendig.
Aber Sebastian Gleixner liegt das Dokument auch in einem Band der Edition „Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ vor. In der Edition findet sich ein Vermerk von Bundesjustizminister Dehler über die Kabinettsitzung, darin heißt es:
[Sebastian Gleixner:]
„‘Der Kanzler vertrat den Standpunkt, dass die laufenden Verfahren möglichst rasch nach den in den Zonen bestehenden Gesetzen abgewickelt werden sollten. Der Vizekanzler und der Finanzminister weisen auf die groben Ungerechtigkeiten und die Gefahren für die Wirtschaft hin. Es wurde festgelegt, dass das Justizministerium eine zusammenfassende Darstellung der augenblicklichen Rechtslage und der für die Vereinheitlichung sprechenden Gesichtspunkte geben soll.‘“
Wenige Sätze, viel Inhalt: Da fallen Worte wie „grobe Ungerechtigkeiten“, „Gefahren für die Wirtschaft“ – ziemlich deutliche Worte, und eigentlich geht es doch um die Überlebenden. Vizekanzler und Finanzminister kommen nicht gut weg. Laut Protokoll stellen sie sich mit Blick auf die wirtschaftliche Nachkriegssituation hier gegen die Regelung zugunsten der Verfolgten. Der Bundeskanzler hingegen wollte die bisherigen Regelungen beibehalten und die Verfahren zügig beenden.
Anhand des Protokolls muss ich sagen: Ein eindeutiges Bekenntnis, dass man da wirklich was wiedergutzumachen habe, liest sich anders. Tatsächlich gehen die Bemühungen bei der Rückerstattung vor allem von den westlichen Besatzungsmächten aus.
[Akustische Pause, Musik]
Deutschland, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die NS-Terrorherrschaft ist beendet. Das Land liegt in Trümmern, vier Siegermächte haben es besetzt: Im Süden und Westen US-Amerikaner, Franzosen und Briten und im Osten die Sowjets.
Wie es mit Deutschland weitergehen soll, sehen die Besatzer unterschiedlich. Bei einem sind sie sich aber einig: das alte NS-Regime so schnell wie möglich aus den Köpfen und Herzen der Bevölkerung zu bekommen. Und auch aus den Händen, die sich missbräuchlich Dinge angeeignet haben.
[Jürgen Lillteicher:]
„Für die US-Amerikaner war ganz klar, dass die Eigentumsordnung, die ja während des Nationalsozialismus entstanden war, durch Gewalt entstanden ist und auf jeden Fall auf den Prüfstand musste. Also Personen, die zu Unrecht Eigentum von Kollektivverfolgten, hieß das, erlangt hatten, mussten dieses zurückgeben.“
Das ist Jürgen Lillteicher. Er ist Historiker, Leiter des AlliiertenMuseums in Berlin und Experte für die Rückerstattung von jüdischem Eigentum in der frühen Bundesrepublik. Rückerstattung, also das Zurückgeben von unrechtmäßigem Besitz, ist ein wichtiges Anliegen beim Übergang von einer Diktatur in einen Rechtsstaat. Denn erst einmal müssen die Verhältnisse geklärt werden, wem jetzt eigentlich was rechtmäßig gehört. Expertinnen und Experten sagen, dass man den Gegenwert von 3,5 Milliarden DM über die Rückerstattung umverteilt hat. Und wir sind hier in den frühen 50er Jahren und das ist zu dieser Zeit eine gewaltige Summe.
[Jürgen Lillteicher:]
„Also die Amerikaner waren in dieser Frage eindeutig Vorreiter in langen Diskussionen mit dem Stuttgarter Länderrat.“
[kurzer Ping-Ton, der einen Einschub ankündigt]
Kurz zur Einordnung: der Stuttgarter Länderrat war von 1945 bis 1948 die zentrale Koordinationsstelle für die Länder der amerikanischen Besatzungszone.
[Jürgen Lillteicher:]
„Die Bundesrepublik gab es zu der Zeit noch nicht. Sie haben lange darauf gesetzt, zusammen mit den deutschen Stellen oder dann neuen Vertretern gemeinsam ein Rückerstattungsgesetz zu erarbeiten. Aber man merkte, da gibt es Grenzen. Letztendlich wollten, glaube ich, deutsche Vertreter nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Und dann haben die Amerikaner dieses Gesetz selbst erlassen und das war eigentlich dann das Role Model oder der Vorreiter für die anderen Besatzungsmächte wie die Briten oder Franzosen.“
1947 wird mit dem Militärregierungsgesetz Nr. 59 das erste Rückerstattungsgesetz in einer deutschen Besatzungszone beschlossen. Entstanden ist das durch die US-amerikanischen Besatzer in enger Zusammenarbeit und Kommunikation mit den deutschen Behörden. Die Franzosen folgen noch am selben Tag, die Briten 1949.
Jürgen Lillteicher erklärt das Prozedere nach dem beschlossenen Gesetz so:
[Jürgen Lillteicher:]
„Ich konnte als Verfolgter, ob jetzt in Deutschland noch lebend oder im Ausland, einen sogenannten Rückerstattungsantrag stellen. Das hatte auch bis zu einem gewissen Datum zu erfolgen. Und über diesen Antrag hat dann tatsächlich ein deutsches Wiedergutmachungsamt entschieden. Also dieser Antrag ist eben dann dem Eigentümer beziehungsweise nicht dem Eigentümer sondern Besitzer zugegangen: ‚Hallo, es gibt hier ein Rückerstattungsbegehren. Bitte widerlegen Sie jetzt die Entziehungsvermutung.‘ Dann hatte sich sozusagen derjenige, der ja sich bereichert hatte oder zu einem günstigen Preis ein Haus, ein Grundstück erworben hatte, eben zu erklären und diese Entziehungsvermutung zu widerlegen. Wenn das nicht gelang, war das Eigentum zurückzugeben. Es gab für die Verfolgten aber auch die Wahl jetzt Rückerstattung in natura oder eine sogenannte Nachzahlung zum Kaufpreis.“
[neutrale Doku-Musik]
Um das kurz zu illustrieren ein fiktives Beispiel: Nehmen wir an, dass ein Frankfurter Jude 1938 aus seinem Haus vertrieben wird. Er wandert in die USA aus. Sein Haus geht für einen günstigen Preis an einen örtlichen NSDAP-Funktionär.
Mit dem neu beschlossenen Gesetz wird nun eine Grundlage geschaffen, damit ehemals Verfolgte überhaupt wieder an ihr Eigentum gelangen können. Der genannte Verfolgte kann also erstmals einen Anspruch geltend machen und angeben, dass der NSDAP-Funktionär das Haus unrechtmäßig erworben hat. Der beschuldigte NSDAP-Funktionär ist jetzt verpflichtet das Gegenteil zu beweisen. Kann er das nicht, muss er das Haus zurückgeben oder einen angemessenen Kaufpreis nachbezahlen.
[Jürgen Lillteicher:]
„Die Argumentation der Leute, die sich im Nationalsozialismus an jüdischem Eigentum bereichert hatten, waren dann schon, ja, ich sage mal, für unsere Ohren sehr, sehr erstaunlich, was da an Argumenten gekommen ist. In vielen Fällen sind sich damals eben Verfolgte und Verfolger, also Juden und ehemalige Nutznießer der nationalsozialistischen Herrschaft, tatsächlich wieder begegnet oder zumindest in Schriftsätzen. Das war eine hautnahe Auseinandersetzung über die Beteiligung eigentlich am NS-Unrecht.“
In den 50er und 60er Jahre vollzieht sich dieser Rückerstattungsprozess zügig. Was wir also eingangs in der Edition der Kabinettsprotokolle nachlesen konnten, ihr erinnert euch, die ersten Überlegungen der neuen bundesrepublikanischen Regierung, die Regelungen zu vereinheitlichen und zu entschärfen, das lässt man fallen. Auch weil die Alliierten sagen, an das von uns geschaffenen Recht geht ihr nicht ran. Trotzdem hat die Bundesregierung 1957 ein Bundesrückerstattungsgesetz geschaffen. Damit wurden aber nicht die alliierten Rückerstattungsgesetze in den Besatzungszonen vereinheitlicht. Vielmehr hat das Gesetz die rückerstattungsrechtlichen Geldverbindlichkeiten des Deutschen Reichs, der NSDAP, des Landes Preußen und anderer gleichgestellter Rechtsträger geregelt. Damit sind zum Beispiel Ansprüche von NS-Verfolgten gemeint, deren Vermögen durch den nationalsozialistischen Staat entzogen worden waren und die nun ihr Geld von der Bundesrepublik zurückfordern können.
Das heißt aber nicht, dass die Menschen nach Einführung entsprechender Gesetze nun ohne weiteres wieder Ihr Eigentum erhalten. Der Weg dorthin ist oft steinig. Verfahren, in denen es zum Beispiel um die Rückgabe von Immobilien geht, dauern Jahre.
Aber Eigentum geht ja über Häuser und Grundstücke hinaus, wo zumindest der Ort geklärt ist. Bei Einrichtungsgegenständen wird es viel schwieriger. Das betrifft vor allem Kunst – und Kulturgüter.
[Musikpause, kurzer tonaler Übergang]
[Kathrin Kleibl:]
„Also der Fall, den ich besonders interessant finde, ist der Fall der Familie Klopstock. Dr. Felix Klopstock war in Berlin Lungenfacharzt und ja, er lebte mit seiner Familie in einem gutbürgerlichen Verhältnis. Sie hatten eine sehr, sehr große Wohnung, wie das in Berlin so üblich war, über eine ganze Etage. Felix Klopstock hatte auch seine Arztpraxis in seiner eigenen Wohnung, und 1938 wurde er dann nach der Reichspogromnacht verhaftet und in ein KZ verschleppt und kam auch erst ein paar Wochen später wieder zurück.“
Das ist Kathrin Kleibl. Sie arbeitet als Provenienz-Forscherin am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Provenienzforschung befasst sich mit der Besitzgeschichte von Objekten. In diesem Fall mit den Besitztümern der Familie Klopstock.
[Kathrin Kleibl:]
„Und da fasste die Familie Klopstock dann auch den Entschluss, dass sie sich ja, also dass sie irgendwas tun müssen und dass sie wahrscheinlich dann Deutschland verlassen müssen. Sie hatten lange damit gerungen, weil Felix Klopstock war ein Veteran des Ersten Weltkrieges und hatte dann immer gesagt, ach, mir kann man doch nichts. Und die Familie hat dann drei Liftvans gepackt, hat die Ausreise beantragt, die Gebühren bezahlt, das ganze Prozedere durchgeführt und ist dann nach England ausgewandert. Und als die Familie dann in England ankam, haben sie natürlich vergebens auf ihr Umzugsgut gewartet, weil in der Zwischenzeit schon der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist und dann die Schiffe nicht mehr auslaufen konnten und so das Umzugsgut der Familie in Hamburg stecken blieb.“
Diese Geschichte der Familie Klopstock ist nur ein Beispiel von tausenden Familien, die Kathrin Kleibl mit Hilfe des LostLift-Datenbankprojektes erforscht Lift bzw. Liftvans sind große Holzcontainer, die mit Schiffen transportiert worden sind. Das Projekt soll zeigen, was mit dem Hab und Gut von Menschen passiert, die aus Deutschland aufgrund der NS-Verfolgung zu der Zeit kurz vor Kriegsbeginn auswandern. Wie eben hier die Berliner Familie Klopstock, deren Umzugsgut nun in Hamburg festsitzt.
Denn nachdem Nazideutschland mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg beginnt, wird die zivile Schifffahrt weitestgehend eingestellt. Schiffe, die bereits ausgelaufen sind, werden zurückbeordert. Andere fahren gar nicht erst los. Die Container landen alle in den deutschen Häfen. Handelt es sich – wie im Falle der Familie Klopstock – um Emigranten, wird der Besitz ab 1940 von der Gestapo beschlagnahmt und im Anschluss öffentlich versteigert. Die Erlöse aus dem unrechtmäßigen Verkauf erhält das Deutsche Reich. Privatpersonen, Händler, Museen und Bibliotheken gelangen so kostengünstig an Möbel, Bücher oder Bilder.
[Hintergrundmusik]
Zusammen mit Kathrin Kleibl versucht Susanne Kiel anhand von Akten nachzuvollziehen, was mit diesen ganzen Umzugsgütern aus den beiden Häfen Bremen und Hamburg geschehen ist. Susanne Kiel erklärt das so:
[Susanne Kiel:]
„Das Umzugsgut wurde vermutlich ab Anfang 1940 beschlagnahmt, sukzessive, und in Bremen haben wir es bis Ende 1943 dokumentiert. 1944 konnten wir bisher noch nichts finden, was da versteigert worden wäre. Das hängt aber wohl damit zusammen, eben, dass das meiste dann einfach schon versteigert worden war. Wir haben ja fast 800 Versteigerungen nachweislich in der damaligen Tagespresse in den Bremer Nachrichten nachweisen können. Und die Luftangriffe gingen natürlich auch gezielt auf die Hafengebiete. Auf die wirtschaftsintensivsten Gebiete der jeweiligen Städte. Und dadurch ist auch natürlich einiges vernichtet worden. Aber in Bremen zum Beispiel sind es nicht mal 10 % der gelagerten Liftvans und Collies und Kisten, die da vom Umzugsgut eben noch lagen, vernichtet worden. Mehr ist das da nicht.“
90 Prozent der Liftvans haben in Bremen die Luftangriffe also unbeschadet überstanden und sind in die Versteigerungen gekommen. Es sind die gesamten Besitztümer von mehreren tausend Familien und Einzelpersonen: Möbel, Kleidung, Kunstgegenstände, Kinderspielzeug, und so weiter. Nach dem Krieg versuchen einige der Betroffenen wieder an Ihr Hab und Gut zu kommen:
[Susanne Kiel:]
„Wir haben in Bremen zwei Fälle, wo tatsächlich nach den Sachen gesucht wurde, weil man ein Versteigerungsprotokoll vorliegen hatte, wo der Käufername eingetragen war. Und das konnte man eindeutig identifizieren, dass das Gemälde von diesem Eigentümer von diesem Händler gekauft wurde, aber der Händler sich rausgeredet hat auch. Er wusste ja gar nicht, dass das jüdische Eigentum gewesen ist, was er da gekauft hat. Der Händler erscheint weit über 50-mal in den erhaltenen Versteigerungsprotokollen als Käufer und es stand auch in der Tagespresse, dass dieser Kontext da besteht, aber auch dann immer und das ist überall die gleiche Aussage gewesen, dass die selber ausgebombt wurden und dadurch sie nichts mehr haben von denen.“
Weil die Rückerstattung, also die Rückgabe der eigentlichen Güter, oftmals nicht klappt, versuchen einige Familien stattdessen Ersatzansprüche durchzusetzen. Doch auch hier lauern starke Widerstände, wie Susanne Kiel schildert:
[Susanne Kiel:]
„Also ich glaube, ich lehne mich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass das schon immer sehr weit runtergerechnet worden ist, und es wurde vom Senator für die Finanzen, der neben der Oberfinanzdirektion in Bremen Antragsgegner gewesen ist, dass die einen Gutachter hatten, hier in Bremen jetzt, der wirklich sukzessive runtergerechnet hat, als wenn das vorher besprochen worden ist, aber dafür habe ich natürlich keine schriftlichen Belege. Aber es ist schon sehr, sehr deutlich. Es wurde immer eine Abnutzungsgebühr von 25 % auf die Möbel noch mal runtergerechnet. Dann musste der Antragssteller immer noch mal belegen: ‚Aber wir haben die Sachen erst für die Auswanderung gekauft, da kann nichts abgenutzt gewesen sein.‘ Und dann musste der Antragssteller belegen, warum das mehr wert war.“
So kämpfen viele Familien bei der Rückerstattung jahrelang mit den deutschen Ämtern. Einige Familienmitglieder bekommen das Ende des Verfahrens nicht mehr mit, weil sie in der Zwischenzeit versterben. Die meisten Verfahren enden in den 1960er Jahren – mal mit einer Entschädigung, mal mit einem Vergleich, mal mit der Verfahrenseinstellung.
[Musikpause, kurzer tonaler Übergang]
Jahrzehnte später gelingt es Susanne Kiel und Kathrin Kleibl zumindest einige wenige Lücken in der Provenienzkette zu schließen. Wie auch im Fall der Familie Klopstock.
[Kathrin Kleibl:]
„Also sie gingen jahrelang davon aus, dass das wohl einfach verschwunden ist oder dass es im Bombenhagel irgendwie zerstört worden ist. Die Familie wusste von nichts und sie wurden dann zwar entschädigt mit einer bestimmten Summe, aber ihr Umzugsgut haben sie nie wiedergesehen. Also sie sind sozusagen in England angekommen mit ihrem Handgepäck. Vor kurzem durch unsere Recherchen konnten wir dann die Familie bzw. die Tochter in England wieder aufspüren und die mittlerweile 100-jährige Eva Evans konnte sich noch sehr gut an die Zeit der Auswanderung erinnern, wie die Gefühle auch, die sie dabei hatten als Familie, dass sie nie wieder zurückkommen können nach Berlin.“
Der Fall der Familie Klopstock ist allerdings bisher eine Ausnahme, denn oft verlaufen Spuren einfach irgendwann im Sand oder können aufgrund der Vielzahl verschiedener Spuren an unterschiedlichen Orten kaum nachverfolgt werden.
Aber: Durch die modernen Möglichkeiten von Big Data in Datenbanken, durch bessere Suchmöglichkeiten und digital zur Verfügung gestellte Unterlagen sind die Voraussetzungen heute besser. Und je mehr die Forscherinnen im Laufe der Recherche enthüllen, desto mehr können sie auch Auskünfte über die Geschichte des Hab und Guts betroffener Familien weitergeben. Und dadurch auch ganze Familiengeschichten und -schicksale nachzeichnen.
[Kathrin Kleibl:]
„Also bei der Familie Klopstock weiß man eben von den Versteigerungsprotokollen, in der Gerichtsvollzieherei, wer die Käufer sind, und die lassen sich eben teilweise auch identifizieren. Darunter haben wir natürlich auch Händler, wie das sehr oft war, die dann die Ware weiterverkauft haben. Aber auch im Fall der Klopstocks sind auch Mediziner bei den Versteigerungen anwesend gewesen, die das Medizinische oder die Praxisausstattung von Herrn Klopstock aufgekauft haben. Und unter anderem war zum Beispiel eine Gynäkologin unter den Käufern, die ja medizinische Geräte gekauft hat, und wir wissen von dieser Gynäkologin, dass sie Zwangsabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen im KZ in Hamburg durchgeführt hat. Also das macht das natürlich dann gerade noch mal brisanter irgendwie. Und diese Frauenärztin, die hat auch noch in der Nachkriegszeit in Hamburg weiter praktiziert, unbehelligt.“
So weisen recherchierbare Gegenstände und Objekte wiederum auf Personen, Schicksale und Geschichten hin, auch Täter- oder Mitläufergeschichten. Projekte wie die LostLift-Datenbank und Datenverknüpfungen wie beim Themenportal Wiedergutmachung machen dieses Unrecht leichter nachvollziehbar. Aber erst seit wenigen Jahren. Die Behörden hatten das Thema Rückerstattung nach Erledigung der Verfahren erst einmal rasch abgehakt. Erst in den 1990ern flammt die Diskussion um entzogenes Eigentum neu auf. Und das hat vor allem mit einer ganz bestimmten Form der Rückerstattung zu tun, der Rückgabe von Kunst- und Kulturgütern.
[Benjamin Lahusen:]
„Aber dass man häufig wirklich davon ausgegangen ist, dass man in der Institution ein Kulturgut nimmt, ein Bild von der Wand, es umdreht und dann steht auf der Rückseite irgendwas drauf. Dieses Bild hat mal gehört dem und jenem. Oder da sind irgendwelche Hakenkreuze drauf oder Beschlagnahmestempel von der Gestapo oder irgendwas. Also was einem dann ganz unmittelbar die Geschichte dieses Bildes erzählt. Und das ist natürlich lange Vergangenheit. Es ist jetzt wirklich allgemein bekannt, dass es so einfach eben nicht ist, dass es sehr, sehr komplexe Forschungen sind und dass man heute sich als größere Einrichtung jedenfalls es gar nicht leisten kann, dem aus dem Weg zu gehen.“
Sagt Benjamin Lahusen. Er ist Professor für Rechtsgeschichte und leitet das Projekt „Recht ohne Recht“, das durch die Bildungsagenda NS-Unrecht des Bundesfinanzministeriums über die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wird. Mit seinen Mitarbeitenden erforscht er die komplexen Kaufs- und Verkaufsgeschichten im Rahmen von Kunstrestitutionen. Er beschreibt das Dilemma, dass staatliche oder öffentliche Institutionen wie Museen oder Bibliotheken Kunstgegenstände grundsätzlich nur freiwillig restituieren:
[Benjamin Lahusen:]
„Also ich würde jetzt mittlerweile sagen, in 99,99 % aller Fälle sind die heutigen Besitzer von Raubkunst Eigentümer geworden. Entweder nach Regeln der Gutgläubigkeit. Wenn man irgendwas gutgläubig erwirbt, dann wird man in aller Regel Eigentümer, oder jedenfalls nach den Regeln der Ersitzung zehn Jahre die Sache gehabt –etwas salopp gesagt – macht einen dann zum Eigentümer.“
Die Rückerstattung von Kunst und Kulturgütern bleibt also weiterhin freiwillig, wenn auch die Bereitschaft von Museen oder Bibliotheken sehr hoch ist und die Provenienzforschung eine immer wichtigere Rolle spielt.
[Musikpause, kurzer tonaler Übergang]
Benjamin Lahusen vertritt die Ansicht, dass die Ausmaße der Restitution von Kunst- und Kulturgütern viele Jahre lang nicht richtig eingeschätzt wurden, vielleicht aufgrund der Umstände auch gar nicht umfassend eingeschätzt werden konnten. Ohne systematischere Untersuchungen wissen wir schlicht nicht, wie viele Kunst- und Kulturwerke heute noch in Museen und Galerien hängen, die damals NS-Verfolgten gehört haben.
[Benjamin Lahusen:]
„Und deswegen ist dort anders als man ja vielleicht denken mag, weil viele immer so intuitiv den Eindruck haben, da wäre schon so unglaublich viel passiert. Deutschland hatte schon so viel wiedergutgemacht und so, das gilt für diesen Bereich eben gerade nicht und konnte davor eben nicht gelten.“
Allein anhand der Rückerstattung und der Restitution von Kunst- und Kulturwerken wird klar, wie schwierig das Thema Wiedergutmachung ist. Abseits des persönlichen Schmerzes stehen die meisten Verfolgten nach dem Krieg mit leeren Händen da. Beim Versuch, ihr Eigentum zurückzuerhalten – oder zumindest eine Entschädigung – treffen sie auf große Schwierigkeiten, in zu vielen Fällen auch auf eine mitunter feindselige Bürokratie. Oder sie wollen und können den ehemaligen Häschern oder Nutznießern einfach nicht mehr gegenübersitzen, weshalb viele Ansprüche auch erst Jahre oder Jahrzehnte später von den Erben erhoben werden.
Trotz all dieser Tatsachen sollte man bei der Bewertung der Rückerstattung nicht zu schnell urteilen, sagt der Leiter des AlliiertenMuseums, Jürgen Lillteicher:
[Jürgen Lillteicher:]
„Man spricht ja immer von den ruhigen 50er Jahren, in denen die Vergangenheit keine Rolle gespielt hätte, das Schweigen. Und wenn man aber da in deutsche Gerichtssäle guckt, ist es genau das Gegenteil. Also es sind zigtausend Verfahren geschehen im Rahmen der Restitution, wo sich genau über die Vergangenheit auseinandergesetzt wurde.“
Die meisten Gerichtsfälle eint, dass Betroffene neben einer monetären Entschädigung vor allem eine Forderung haben.
[Jürgen Lillteicher:]
„Die Erwartung der Verfolgten war natürlich, wenn ich jetzt Rückerstattungsantrag stelle, ich will, dass ein deutsches Gericht sagt, dass mir Unrecht geschehen ist, dass ist diese Hoffnung, das hört man wirklich in den Materialien auch heraus, in den Quellen. Allerdings war die Rückerstattung eine zivilrechtliche Angelegenheit. Da wurde nicht wie beim Strafrecht gesagt: Du bist schuldig oder nicht schuldig. Da ging es wirklich um die Abwicklung, ja von Kaufverträgen. Und jetzt ist die Frage, wie stark jetzt Gerichte da auch bereit waren, diese Verfolgungserfahrung des einzelnen Antragstellers der Antragstellerin zu berücksichtigen.“
Diese Hoffnungen auf eine allgemeine Anerkennung von Unrecht und die Wiederherstellung einer Form von „Gerechtigkeit“ begleiten sehr viele der Wiedergutmachungsverfahren. Die Rückerstattung von Häusern hat tatsächlich häufig funktioniert. Oder zumindest konnte man sich auf eine Nachzahlung auf den Kaufpreis einigen. Sehr viel schwieriger war das bei beweglichen Gütern. Susanne Kiel beschreibt das hier für die Betroffenen, die sie über das LostLift-Datenbankprojekt kennengelernt hat:
[Susanne Kiel:]
„Viele waren krank oder sind krank geworden. Viele waren auch schon sehr alt, die ausgewandert sind und die haben das Ende ihres Rückerstattungsantrags oder Verfahrens gar nicht mehr mitbekommen. Das ist auch immer ein sehr trauriger Moment in den Recherchen, wenn man sieht, die haben sich sehr bemüht und sehr gekämpft um ihre Ansprüche und es dann nicht mehr mitbekommen haben.“
[neutrale Doku-Musik]
Rückerstattung und Restitution in dieser Form an Privatpersonen bzw. Nachfolgeorganisationen waren zu dieser Zeit ein Novum in der Geschichte. Aus heutiger Perspektive gibt es bei der Wiedergutmachung viele Widersprüchlichkeiten. Da ist gerade am Anfang eine teils unbarmherzige Bürokratie, an der häufig auch ehemals stramme Nationalsozialisten beteiligt sind, wodurch bei den Überlebenden Traumata aus der Verfolgung wiederaufleben oder sich sogar verschlimmern. Da sind äußere politische Umstände, auf die Betroffene keinen Einfluss haben. Und da ist über lange Jahre bis weit in die 1980er Jahre hinein ein Desinteresse der Gesellschaft, die die Vergangenheit hinter sich lassen will und weil man sich – als Vertriebene, Kriegsversehrte, Ausgebombte – eher selbst als Opfer sieht.
Auf der anderen Seite kann man aber gerade bei der Rückerstattung auch feststellen, dass viele Vermögensfragen geklärt werden konnten.
Rückerstattungsverfahren als Folge von NS-Verbrechen waren bis dahin einmalig in der Geschichte. Es gab also auch keinen Vergleichswert und keine Vorbilder, keine Best-Practice-Beispiele, wie man das heute vielleicht ausdrücken würde. Da ist also auch ein Lernprozess bei den Behörden vonstattengegangen, der für die Opfer sicher oft schmerzhaft war.
Der lange Weg von den alliierten Regelungen und dem Kabinettsprotokoll aus dem Jahr 1949 bis zu den neuen Schicksalsklärungen über die LostLift-Datenbank macht für mich so deutlich, wie eng die Wiedergutmachung mit der Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart verwoben ist.
Als Angehörige einer Familie, die selbst lange um Wiedergutmachung für meinen vom NS-Staat ermordeten Großvater gekämpft hat, ist mir auch wichtig, die vielen Faktoren dieses Prozesses zu verstehen und aufzuarbeiten. Faktoren, die wir nur mit Hilfe der Quellen entschlüsseln können. Für mich erzählen die geraubten Objekte und die Akten Vergangenes auf zwei Ebenen.
Da ist zunächst einmal die Geschichte der Wiedergutmachung selbst und die Frage was nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt als Verfolgung und unrechtmäßige Enteignung anerkannt wurde. Wer galt zu welcher Zeit als Opfer? Das sind Fragen, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik berühren und viele gesellschaftliche und politische Diskussionen der letzten 80 Jahre erhellen.
Und dann gibt es da diese zweite Ebene, die nicht weniger wichtig ist. Oftmals sind diese Akten aus dem Bundesarchiv und den Landesarchiven und die wenigen noch vorhandenen Objekte die einzigen Zeugnisse vom Schicksal verfolgter Menschen. Sie legen offen, was mit den Unterlagen aus der NS-Zeit allein nicht zu erzählen wäre, sie lassen in den Anträgen auch die Betroffenen zu Wort kommen.
Die moderne Provenienzforschung und große Portalprojekte wie das Themenportal Wiedergutmachung im Archivportal-D machen dies möglich. So bleiben die Akten nicht in den dunklen Magazinen der Archive. Wie wir künftig mit dem Erbe der NS-Verbrechen und der Geschichte der Wiedergutmachung umgehen werden, welche Geschichten wir erzählen, was wir ausleuchten wollen – diese Fragen stellen sich für unsere Generation damit ganz aktuell.
[neutrale Doku-Musik]
In dieser Folge ging es vor allem um Menschen, die innerhalb Deutschlands verfolgt wurden. Aber was war eigentlich mit den Betroffenen jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches? Schließlich hat Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs eine Zeit lang viele andere Länder besetzt.
Darum wird es in der nächsten Folge gehen, wenn wir wieder einen Blick in die Akten werfen. Wir besuchen ein Amt, dass auch heute noch Wiedergutmachungsanträge behandelt.
[Britta Weizenegger:]
„Wir haben auch die Besonderheit, dass unser Klientel im Durchschnitt 92 Jahre alt ist. (…) Wenn früher die Hauptaufgabe eben die Rentenbearbeitung war, die Rentenbetreuung, dann ist es heute zu 50 % auch der Kontakt zu Forschern, Historikern usw. Natürlich ist uns klar und das ist auch allen Mitarbeitern hier klar, dass irgendwann der letzte Fall geschlossen sein wird. Das war aber absehbar. Interessanterweise dauert es doch länger, als man immer erwartet hat und ich mache das hier mit großer Freude.“
Wenn euch dieser Podcast gefällt, freuen wir uns über eine Fünf-Sterne-Bewertung und empfehlt uns gerne weiter! Ihr habt Fragen zu dem Thema oder wollt nun selbst in den Akten stöbern? Den Kontakt dazu gibt’s in den Shownotes.
„The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Das Themenportal ist ein Kooperationsprojekt vom Bundesarchiv, dem Landesarchiv Baden-Württemberg und FIZ Karlsruhe im Archivportal-D. Initiiert wurde und finanziert wird es vom Bundesministerium der Finanzen.
„The German Wiedergutmachung“ ist eine Produktion von Escucha – Kultur fürs Ohr im Auftrag des Bundesarchivs. Ich bin Nora Hespers. Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha – Kultur fürs Ohr. Cover: Hauer + Dörfler.
Neuer Kommentar