Episode 2: Eine Frage des Territoriums – Der Blick nach Westen
Shownotes
In dieser Folge richtet sich der Blick auf die internationale Seite der Wiedergutmachung und zwar auf die westlichen Verbündeten in Europa. Wie kam es dazu? Wie lief diese ab? Wie erlebten die Menschen in diesen Ländern – als direkt Verfolgte oder später Hinzugezogene – die deutsche Wiedergutmachungspolitik?
Dazu werden wieder Akten aus dem Bundesarchiv geöffnet und Experten befragt. So spricht der Historiker Tim Geiger über die außenpolitische Geschichte der Wiedergutmachung und Nicole Immler aus Utrecht in den Niederlanden erklärt, wie die Wiedergutmachung im Ausland wahrgenommen wurde. Außerdem berichtet Britta Weizenegger aus Saarburg, wie heute noch ein Amt für Wiedergutmachung arbeitet und wie die deutsche Bürokratie und die Betroffenen jeweils die Wiedergutmachungsverfahren erlebten.
Zu den Ereignissen und Personen
- Geschichtsgalerie des Bundesarchivs zum Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952: Link
- Tonaufzeichnung der Rede Herbert Wehners im Bundestag am 11. März 1960: Link
- Verbalnote Dänemarks an die Bundesregierung, 21. Juni 1956 (BArch, B 136/3306, Bl. 8–9): PDF
- Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 (BGBl. 1953 II, S. 35–97): PDF
- Globalabkommen mit Dänemark vom 24. August 1959 (BGBl. 1960 II, S. 1233–1335): PDF
Links
- Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“: Link
- Bundesarchiv: Link
- Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) Link
- Amt für Wiedergutmachung in Saarburg Link
- Zeitzeugenprojekt „Zwangsarbeit 1939-45“ Link
Literatur zum Thema
- Reuveni, Gideon: The Phantom Giant, the No-Key Gate, and the Beauty Salon of History. The German-Jewish Reparation Settlement and the Holocaust, in: S:I.M.O.N. Shoah: Intervention. Methods. Documentation 10 (2023) 3, S. 86–103. Online-Version
- Schrafstetter, Susanna: The Diplomacy of Wiedergutmachung: Memory, the Cold War, and the Western European Victims of Nazism, 1956–1964, in: Holocaust and Genocide Studies 17 (2003) 3, S. 459–479. Online-Version
Weitere Infos zur Podcast-Folge: https://www.archivportal-d.de/content/themenportale/wiedergutmachung/podcast
Moderation: Nora Hespers, Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha - Kultur fürs Ohr. Cover: Kreativagentur Atelier Hauer+Dörfler GmbH. Coverbild: Antragsteller bei der URO (© bpk) | Bundesarchiv
Der Podcast „The German Wiedergutmachung“ ist eine Produktion für das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ – der Online-Plattform für Wiedergutmachungsakten, konzipiert und in Auftrag gegeben durch das Bundesarchiv. Die Umsetzung gestaltete Escucha – Kultur fürs Ohr. Die Finanzierung erfolgte durch das Bundesministerium der Finanzen.
Transkript anzeigen
Podcast „The German Wiedergutmachung“
Episode 2: Eine Frage des Territoriums – Der Blick nach Westen
Atmo: Saarburger Wasserfall / Touristen im Zentrum]
Saarburg ist eine kleine Stadt in Rheinland-Pfalz. Im Zentrum ein berühmter Wasserfall, malerische Fachwerkhäuser, Touristen-Idylle. Ein wenig abseits des Zentrums steht ein Haus, das wie eine alte Grundschule aus dem vergangenen Jahrhundert aussieht. Aber der erste Blick täuscht. In diesem Haus wird das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte aufgearbeitet.
[Quietschende Schuhe, hallende leere Gänge]
[Britta Weizenegger:]
„So, das waren früher auch alles Büros. Teilweise auch Wohnungen von Amtsleitern. Das ist mir erspart geblieben. Und Sie sehen jetzt wir haben versucht alles unterzubringen, was hier noch im Haus untergebracht werden kann.“
Britta Weizenegger steht im vierten Stock dieses alten Hauses. Hallende, lange Gänge, breite Treppenhäuser. Aber Britta Weizenegger ist keine Lehrerin, sondern Dezernentin des rheinland-pfälzischen Landesamts für Finanzen und Leiterin des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg. Ein solches Amt gibt es in jedem der sogenannten alten Bundesländer, es kümmert sich um Menschen, die Renten nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten, weil sie im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Im Schnitt sind diese Rentenempfänger heute 92 Jahre alt.
[Britta Weizenegger:]
„Wir haben derzeit noch 2.309 laufende Rentenfälle und davon sind circa 1.200 Personen in Israel wohnhaft. Der Rest verteilt sich dann auf die USA, auf Kanada und andere Länder. In Deutschland leben nur noch zirka 50 Personen von BEG-Renten-Empfängern, die wir betreuen.“
Aber wie wird es weitergehen? In absehbarer Zeit werden keine Überlebenden der NS-Verfolgung mehr unter uns sein.
[Britta Weizenegger:]
„Also wenn früher die Hauptaufgabe eben die Rentenbearbeitung war, die Rentenbetreuung, dann ist es heute zu 50 % auch der Kontakt zu Forschern, Historikern usw. Natürlich ist uns klar und das ist auch allen Mitarbeitern hier klar, dass irgendwann der letzte Fall geschlossen sein wird. Das war aber absehbar. Interessanterweise dauert es doch länger, als man immer erwartet hat und ich mache das hier mit großer Freude.“
[Musik, Tonaler Übergang]
Fast 80 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur gibt es immer noch Menschen auf der ganzen Welt, die Entschädigung für das bekommen, was ihnen die Nazis angetan haben. Als Teil unserer Verantwortung. Wiedergutmachung heißt es offiziell. Das ist ein aus vielerlei Gründen schwieriger, aber allgemein gebräuchlicher Begriff, u.a. für Zahlungen, die die Bundesrepublik an Opfer der NS-Diktatur geleistet hat und weiterhin leistet. Der jahrzehntelange Versuch der Wiedergutmachung spiegelt sich als zäher Prozess in den Akten, die hundert Kilometer füllen. Diese Akten sind oft auch die einzige Quelle, die Familienangehörigen Auskunft über die Verfolgungsschicksale ihrer nahen und fernen Verwandten geben können. Diese Unterlagen werden nun über das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ im Archivportal-D zugänglich gemacht.
In der vergangenen Folge haben wir darüber gesprochen, was eigentlich mit dem Eigentum von Menschen passiert ist, das von den Nazis geraubt wurde. Und wir haben einen kleinen Ausflug in die Welt der Kunstrestitution gemacht. Wenn ihr diese Folge noch nicht gehört habt, würde ich euch empfehlen, diese zuerst zu hören.
In dieser Folge blicken wir auf das Thema Wiedergutmachung aus internationaler Perspektive, aber mit einem Schwerpunkt auf westliche Länder, und fragen, wie die Menschen in diesen Ländern – als direkt Verfolgte oder später Hinzugezogene – die deutsche Wiedergutmachungspolitik erlebten. Dazu öffnen wir wieder eine Akte aus dem Bundesarchiv. Die dabei besprochenen Dokumente verlinken wir euch übrigens auch in den Shownotes.
[neutrale Doku-Musik]
Also, Wiedergutmachung international: Was heißt das? Ein Beispielfall: Zwei Menschen waren im KZ inhaftiert, einer kommt aus Deutschland, der andere aus Dänemark. Beide Menschen erleben die gleichen Abscheulichkeiten, der Deutsche wird nach Kriegsende dafür finanziell entschädigt. Der Däne aber geht erst einmal leer aus.
Klingt ungerecht, oder? Aber tatsächlich ist das zunächst so gewesen. Und in dieser Folge klären wir, wie es dazu kam, und wie das schließlich geändert wurde.
Dazu werfen wir wieder einen Blick in die Akten des Bundesarchivs. Wir sprechen mit dem Historiker Tim Geiger über die außenpolitische Geschichte der Wiedergutmachung und erfahren von Nicole Immler aus Utrecht in den Niederlanden, wie das im Ausland wahrgenommen wurde. Und nach Saarburg kehren wir auch noch mal zurück.
[Intro Audio ID: Podcast Title TBA]
Ich bin Nora Hespers, Journalistin, und das ist „The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“
Folge 2: „Eine Frage des Territoriums: Der Blick nach Westen“
[Akten werden aufgeschlagen]
[Elke Hammer:]
„Wir haben ausgesucht eine Verbalnote aus dem Jahr 1956. Eine Verbalnote ist ein Schreiben einer ausländischen Botschaft, in dem Fall der dänischen Botschaft an das Auswärtige Amt, sozusagen das Außenministerium, wie man auch sagt, der Bundesrepublik. Und die dänische Botschaft teilt hier die Auffassung der dänischen Regierung in Sachen Wiedergutmachung gegenüber dänischen Verfolgten des NS-Regimes mit, die nach Auffassung der Dänen in dieser Zeit vom Bundesentschädigungsgesetz nicht ausreichend berücksichtigt werden.“
Das ist Elke Hammer. Sie arbeitet als Archivarin im Bundesarchiv in Koblenz und hat eine dicke Akte aus den 50ern vor sich auf einem großen Tisch liegen. Ein Umschlag aus Karton, darin wiederum Mappen, die ganz dünne, abgeheftete Papiere enthalten. Sie sind vergilbt und eng mit Schreibmaschine beschrieben.
Diese Verbalnote vom 21. Juni 1956, wie sie Elke Hammer beschreibt, gibt es aber nicht nur aus Dänemark, sondern aus insgesamt zwölf westlichen europäischen Ländern. Sie haben eine gemeinsame Forderung an die Bundesrepublik Deutschland:
[Elke Hammer:]
„Sie verweisen darauf, dass auch für ihre Staatsbürger eine Entschädigung aufgrund des erlittenen Unrechts zustehen muss, analog zu denen, die in der Bundesrepublik leben.“
Heißt also: Wenn Deutsche Wiedergutmachungsleistungen bekommen, sollen diese auch die Menschen erhalten, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland leben, aber dennoch von den Nazis verfolgt wurden.
Oft regelt man solche Ansprüche ausländischer Staatsbürger über Reparationen. Das sind völkerrechtliche Zahlungen, die ein besiegter Staat Siegern für Kriegsschäden und -verbrechen zahlen muss. Die deutschen NS-Verfolgten hingegen erhielten Zahlungen aufgrund deutscher Wiedergutmachungsgesetze, die aber – grob gesagt – nicht für Ausländer galten.
Die Forderung Dänemarks geht nun an das Auswärtige Amt, also an das Außenministerium der Bundesregierung. Davon erfährt auch der Bundeskanzler aufgrund der hohen diplomatischen Bedeutung.
Wenn Vorgänge zur Chefsache werden, also sich der Bundeskanzler einschaltet, passieren sie das Bundeskanzleramt und landen in einer Akte. Und diese Akte findet sich dann im Bundesarchiv. Das ist auch in diesem Fall so. Elke Hammer:
[Elke Hammer:]
„Sie können natürlich jetzt hingehen und Sie können die Akte von vorne bis hinten lesen und sozusagen nur den gedruckten Text zur Kenntnis nehmen. Dann wären Sie informiert, was in etwa geschehen ist, aber das eigentlich Spannende ist, wenn Sie wirklich wissen wollen, was ist geschehen, was ist im Detail passiert, dann bleibt es nicht aus, dass Sie sich auch die handschriftlichen Randvermerke durchlesen müssen. Welche von diesen Vermerken sind für mich wichtig? Also manchmal steht da nur – in Anführungsstrichen – ‚zum Vorgang nehmen‘.“
Elke Hammer blättert weiter in den Dokumenten und hat eine Passage gefunden.
[Elke Hammer:]
„Hier geht es um eine Besprechung zwischen dem Finanzministerium und dem Außenministerium, wo man sich über die Möglichkeiten unterhält, diesen ausländischen, diesen westeuropäischen Forderungen entgegenzukommen bzw. den Grenzen, die dem Entgegenstehen. (…) Es geht hier um den Bundesfinanzminister. Der Bundesfinanzminister hob hervor, dass praktisch an den übersetzten Forderungen des Auslands nach 1918 der deutsche Staat zerbrochen und in die Arme des Nationalsozialismus getrieben worden ist. Und außerdem möchte man gegen die völlig falsche These ankämpfen, dass wir angesichts des Devisenschatzes unserer Notenbank ein reiches Volk seien. Es gibt noch andere Passagen, die dann auch explizit ansprechen, dass man auf jeden Fall verhüten möchte, wenn man den westlichen Staaten entgegenkommt, den westeuropäischen Staaten, die ja nun Bundesgenossen sind. Dass dann auch die osteuropäischen Staaten mit ihren viel größeren Belastungen, Schädigungen durch den Nationalsozialismus, also Ukraine, vor allem auch die Staaten der damaligen UdSSR, dann Forderungen erheben können.“
Der Bundesfinanzminister befürchtet, dass ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen würde, wenn man den Forderungen einzelner Staaten nachgibt. Er sagt: Die Bundesrepublik kann das dann eventuell finanziell nicht bewältigen, der Bundeshaushalt gibt das nicht her. Aber: Das Außenministerium und schließlich auch das Bundeskanzleramt sehen das etwas anders. In den folgenden Jahren entbrennt deshalb eine lebhafte Diskussion darüber, wie und an wen die Bundesrepublik schließlich auch international zahlen wird.
[Musik und tonaler Übergang]
[Tim Geiger:]
„Na, die 50er sind schon ein wesentlicher Einschnitt. Beginnend mit dem Luxemburger Abkommen, also die Regelung der Entschädigung mit dem Staat Israel, wo Wiederaufbauhilfen für Israel, Wiedereingliederungshilfen in Form von Sachleistungen gezahlt werden, vorgesehener Zeitraum von zwölf Jahren, und eben zusätzlich, ich glaube es waren 3 Milliarden zusätzlich eben noch 450 Millionen für die Jewish Claims Conference, die für eben die heimatlosen jüdischen Verfolgten die Gelder verwalten soll.“
Ihr hört hier Tim Geiger. Er ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte und arbeitet im Auswärtigen Amt an der Edition „Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“.
Tim Geiger hat gerade das Luxemburger Abkommen erwähnt. Das ist ein ganz zentrales Abkommen. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich darin 1952, dem Staat Israel, der hunderttausende jüdische Überlebende des Holocaust aufgenommen hat und diese nun auch versorgen muss, und der Jewish Claims Conference, Geld zu zahlen. Insgesamt 3,45 Milliarden Mark.
Die Jewish Claims Conference ist eine internationale Dachorganisation jüdischer Verbände, die sich um Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Holocaust kümmert.
Zur gleichen Zeit geht es in London um die Begleichung der Vorkriegsschulden und alliierter Unterstützungszahlungen nach dem Krieg. Eine Vielzahl von Gläubigerstaaten schließt dort ein Abkommen mit der Bundesrepublik, das sog. Londoner Schuldenabkommen, darin wird zum Beispiel geklärt, wie mit Reparationen verfahren wird, die üblicherweise nach Kriegsende die Verlierer an die Gewinner zahlen müssen und da ist besonders ein Punkt wichtig, sagt Tim Geiger:
[Tim Geiger:]
„Der berühmt gewordene Artikel fünf Absatz zwei des Londoner Schuldenabkommens sah vor, dass sämtliche Reparationszahlungen bis zur endgültigen Lösung der Deutschlandfrage in einem Friedensvertrag zurückgestellt werden.“
[kurzer Ping-Ton, der einen Einschub ankündigt]
Diese Deutschlandfrage meint die Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, die DDR. Das ist hier ganz wichtig, denn nochmal: Reparationen, also staatliche Zahlungen des Verlierers an den Sieger, konnten in einem Friedensvertrag nur von dem „gesamten Verliererstaat“, also von einem ungeteilten Deutschland geregelt werden. Und eine Wiedervereinigung Deutschlands und damit ein Friedensvertrag stand 1953 noch in den Sternen…
[Tim Geiger:]
„Das wurde gewissermaßen zu einem sehr, auch sehr bequemen Schutzschild der Bundesrepublik, mit der Ansprüche ausländischer NS-Geschädigter eigentlich immer abgewiesen wurden.“
Die Bundesrepublik kann so also sagen: Wir können gar nicht zahlen, weil wir ja noch nicht wiedervereinigt sind. Vom Ausland wird diese Argumentation natürlich gar nicht gern gehört, insbesondere da ab Ende der 1950er Jahre die westdeutsche Wirtschaft so offensichtlich brummt, dass man sich mit der als Ausrede angesehenen Formulierung nicht abfinden will.
[Tim Geiger:]
„Die Bundesrepublik kann sonst wirtschaftlich vor Kraft strotzend kaum noch gehen. Aber sagt immer aus Geldgründen können wir euch keine Entschädigung zahlen. Das ist ein gewisser Widerspruch. Und auch den greifen natürlich die westeuropäischen Verbündeten auf, die das Problem haben, da aber nicht die USA an ihrer Seite zu sehen, als der wirklichen, entscheidenden Hegemonialmacht im westlichen Lager. Es ist die Zeit der Wiederaufrüstung, der Wiederbewaffnung, was auch ein immenser Kostenfaktor ist.“
Aufgrund des Kalten Krieges halten sich die USA zurück. Sie habe die Haltung: Eine wirtschaftlich starke Bundesrepublik hat für uns erst einmal Priorität.
Die westeuropäischen Staaten hoffen trotzdem auf einen Ausweg, nämlich auf die Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie wollen, dass auch Personen eine Entschädigung erhalten können, die keinen territorialen Bezug zu Deutschland hatten. Was genau meine ich hier mit territorialem Bezug?
Hintergrund ist hier das Bundesentschädigungsgesetz, in dem die Regeln für Entschädigungen geklärt werden. Dieses Gesetz folgt einem Prinzip, das sich Territorialitätsprinzip nennt, von Territorium, also Hoheitsgebiet.
Das bedeutet, dass nur Menschen Anspruch auf Entschädigung haben, die einen Bezug zu Deutschland und dessen Territorium besitzen. Damit sind Menschen gemeint, die zu einem Stichtag 1952 in der Bundesrepublik lebten oder vor dem Stichtag verstorben sind und im Gebiet der Bundesrepublik gelebt hatten oder aus dem Deutschen Reich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 emigriert, ausgewiesen oder deportiert worden sind.
[neutrale Doku-Musik]
Erinnert ihr euch noch an den Vergleich zwischen dem dänischen und dem deutschen KZ-Häftling zu Beginn dieser Folge? Der Däne hat nie in Deutschland gelebt – ein Aufenthalt in einem deutschen KZ galt nicht als „Leben in Deutschland“ – und er ist nie aus Deutschland vertrieben worden. Daher kann er laut Gesetz also nicht entschädigt werden. Wäre dieser Däne nach dem Krieg aber zum Beispiel nach Frankfurt am Main oder Oberammergau gezogen, dann wäre er anspruchsberechtigt gewesen. Es ist also vollkommen nachvollziehbar, warum Länder wie Dänemark nun eine Novellierung fordern, denn verstehen kann man sowas als Überlebender nur schwer.
Doch genau diese Hoffnung auf eine Gesetzesänderung wird enttäuscht, weil hierdurch schwer lösbare Überschneidungen zur Reparationsfrage geschaffen worden wären. Den übrigen westlichen Staaten bleibt nur die Möglichkeit, sich zusammenzuschließen und gemeinsam an die Bundesrepublik Deutschland heranzutreten. Die Folge sind eben genau diese Verbalnoten, die Elke Hammer zu Beginn der Folge vorgestellt hat. Im Wortlaut sind sie fast alle gleich: Deutschland soll für die Verbrechen an den Menschen Verantwortung übernehmen und individuelle Entschädigungen ermöglichen.
[Tim Geiger:]
„Und natürlich steht die Bundesrepublik, wen wundert es nach diesen Verbrechen der NS-Zeit, noch immer unter einem gewissen Verdacht. Das wissen die Diplomaten, teils durchaus einschlägig selbst NS-belastet. Aber sie kriegen eben in ihrer neuen bundesrepublikanischen Gegenwart angekommen mit, dass es notwendig ist, dass die Bundesrepublik sich erkennbar von ihrer NS-Vergangenheit aktiv distanziert, auch durch praktisch tätige Reue und insofern ein kategorisches Nein politisch eigentlich verkehrt ist.“
Die Reaktion aus Bonn ist aber erstmal zurückhaltend: Man bietet Geld für Härtefälle an, oder möchte aus caritativen Gründen Kur- und Krankenhausaufenthalte bezahlen. Vor allem für die internationale Presse und Verfolgtenverbände ist das ein Skandal. Denn die Sicht der Betroffenen ist: wir fordern keine Almosen, sondern eine gerechte Entschädigung.
Nach zahlreichen schwierigen und jahrelangen Verhandlungen mit den jeweiligen westlichen Staaten können sogenannte Globalabkommen einzeln mit den zwölf Staaten abgeschlossen werden. „Global“ deshalb, weil eine „Globalsumme“, also eine Gesamtsumme, die alle individuellen Forderungen umfasst, vereinbart wurde. Die Bundesrepublik sagt dabei ganz klar: Das sind keine Reparationen, sondern außerordentliche Zahlungen, die für die einzelnen Betroffenen vorgesehen sind, aufgrund der Einmaligkeit des NS-Unrechts. Die Verteilung oblag dann den jeweiligen Vertragsstaaten.
Dazu nochmal Tim Geiger:
[Tim Geiger:]
„Es ist vielleicht auch ganz bezeichnend, dass die entscheidenden Durchbrüche gerade auch bei diesen Globalabkommen, die die Folgen dieser Verbalnote von 1956 sind, immer im politischen Zusammenhängen stehen. Letztlich war es keine Frage des Rechts auf die Höhe der Entschädigung, sondern der Fragen des politischen Drucks.“
Fast eine Milliarde Mark zahlt die Bundesrepublik, aufgeteilt auf die zwölf Staaten, mit denen sie zwischen 1959 und 1964 entsprechende Abkommen abschließt. Frankreich bekommt zum Beispiel 400 Millionen, Dänemark 16 Millionen. Die Verteilung der Summen sagt weniger über die Anzahl der betroffenen Menschen im Land aus, sondern vielmehr etwas über die jeweiligen diplomatischen Gewichtsverhältnisse. Bis auf Luxemburg behalten sich auch alle Länder vor, gegebenenfalls noch einmal neu zu verhandeln. Damals werden die Globalabkommen auch im Bundestag debattiert. Hier hören wir mal rein in die Debatte über das Abkommen mit Norwegen. Es äußert sich der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende und Oppositionspolitiker Herbert Wehner am 11. März 1960. Dabei kündigt er an, dass sich seine Fraktion bei der Abstimmung enthalten wird:
[Herbert Wehner (Aufnahme vom 11.03.1960):]
„Entschuldigen Sie, ich will hier bei dieser Gelegenheit nicht auf Zahlen zurückgreifen. Ich will nur zusammenfassend sagen: Die Summen, die mit diesen Verträgen als unsere Wiedergutmachungsleistungen gegenüber Dänemark und Norwegen angesetzt worden sind, machen nur einen Bruchteil der Schäden aus, die dort an Menschen angerichtet worden sind. Das Wort, das wir auch hier wieder gehört haben, dass man nicht alles mit Geld gut machen kann, ist ein richtiges Wort. Andererseits sollte man mit dem, was man auf dem Gebiet tun kann, bis an die uns mögliche äußerste Grenze gegangen sein. Das ist hier leider nicht der Fall. Wir liegen mit diesen Zahlen weit unter dem, was in beiden Ländern dort aus eigener Kraft, aus eigenen Mitteln hat in den Jahren, die seit dem Krieg vergangen sind, aufgebracht werden müssen, um Opfern des nationalsozialistischen Regimes in diesen beiden Ländern zu helfen.“
[neutrale Doku-Musik]
Wichtig ist bei diesen Globalabkommen, dass die BRD zwar das Geld zur Verfügung stellt, die Verteilung an die Verfolgten aber den jeweiligen Staaten überlassen wird. Das letzte dieser Abkommen wird 1964 mit Schweden unterzeichnet.
Viele Staaten, in denen die Nazis gewütet haben, erhalten nun Zahlungen nach den Globalabkommen und geben diese jeweils auf ihre Art und Weise an Betroffene weiter.
Aber ehemalige Verfolgte in osteuropäischen Staaten haben keine Chance auf entsprechende Entschädigungen, obwohl dort viel mehr betroffene Personen leben. Das liegt zum einen am bereits erwähnten Territorialitätsprinzip und der Reparationsfrage und zum anderen am Kalten Krieg. Zahlungen in Länder des Sowjetblocks gelten als politisch ausgeschlossen, weil man aus bündnispolitischer Sicht keine westlichen Devisen liefern will. Zudem befürchtet die Bundesrepublik natürlich auch sehr hohe Forderungen. Wir werden auch hierauf nochmal in einer gesonderten Folge eingehen.
[Tim Geiger:]
„Die Osteuropäer waren tatsächlich immer diejenigen, die ins Nichts fielen. Davor wurden sie abgewiesen, auch immer unter Verweis entweder noch keine diplomatischen Beziehungen und dann mit dem Argument, na, das sind letztlich Reparationszahlungen und die sind allenfalls fällig, wenn es eine Friedensvertrag-Regelung gab. Und letztlich war es 1990 natürlich auch einer der Gründe, warum wir keinen Friedensvertrag bei der deutschen Einheit bekommen haben, sondern einen Zwei-plus-Vier-Vertrag, einen Ersatzvertrag, eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, wie es heißt, weil man eben gerade das Fass der Reparationen nicht aufmachen wollte. Das war klug gedacht, führt aber faktisch daran, dass die moralische Schuld und auch die moralische Verpflichtung natürlich blieb und die ganzen Entschädigungsdebatten, die in den 90er Jahren entstehen, sind letztlich eine Folge dieses gewissermaßen Erfolgs, die Reparationsfrage außen vorgehalten zu haben.“
Die internationale Dimension der deutschen Wiedergutmachungspolitik hat damit also auch Auswirkungen auf unsere jüngste Vergangenheit.
Doch trotz alledem ist viel passiert bei der Wiedergutmachung im westlichen Ausland, auch außerhalb der Globalabkommen: Denn es gibt ja noch die Menschen, die eben nicht durch das Territorialitätsprinzip ausgeschlossen sind und nach dem Krieg im westlichen Ausland leben. Ein solches Beispiel habt ihr ja mit Eva Evans in der ersten Folge dieses Podcast gehört. Sie lebte 1937 in den Grenzen des Deutschen Reichs und ist dann aufgrund der Verfolgung nach England geflohen. In diesem Falle ist sie also anspruchsberechtigt nach dem Bundesentschädigungsgesetz.
Um zu verstehen, wie das genau funktioniert hat, müssen wir noch einmal zurück ins Landesamt für Wiedergutmachung nach Saarburg.
[Musik und tonaler Übergang]
Neben dem eigentlichen Hauptgebäude, das wie eine alte Grundschule aussieht, hat das Landesamt für Wiedergutmachung eine zweite Immobilie mieten müssen. Denn bei 910.000 Akten, die sich im Laufe der Jahrzehnte gesammelt haben, ist irgendwann mal der Platz ausgegangen.
[Schritte auf Gängen]
[Britta Weizenegger:]
„Wir haben hier sehr schmale Gänge, allerdings kommen noch Personen einigermaßen gut durch. Und wir haben hier Holzregale bis zur Decke und die sind alle bestückt, sechs Regalböden und da liegen jeweils bis zu 10 Akten drin. Da kann man sich vorstellen, wie viele Akten hier ungefähr untergebracht sind. Ich persönlich kann sagen, ich habe angefangen, da war ich gerade eine Woche hier und natürlich zur Bearbeitung einer Akte gehört auch dazu, die Akte intensiv zu studieren. Und dann liest man natürlich auch die Aussage des Verfolgten. Man liest auch die Zeugenaussagen, und da habe ich dann ganz am Anfang eine Akte von einem Mann in der Hand gehabt, er und sein Zwillingsbruder waren, ja Opfer der Experimente von Mengele. Und ich sage mal, selbst wenn man aus diesem Bereich nicht kommt, ist Mengele natürlich ein Begriff. Und das noch mal so zu lesen, war schon sehr erschreckend. Zumal dieser Mann überlebt hat und der Zwillingsbruder nicht. Schlimm auch, dass gerade die Überlebenden sehr darunter leiden, dass sie überlebt haben und eben nicht die Angehörigen. Und was einen eher positiv prägt: Wir haben ein sehr gutes Verhältnis mit den noch wenigen Rentenempfängern.“
[neutrale Doku-Musik]
Weil die Durchführung des Bundentschädigungsgesetzes durch die Bundesländer erfolgt, gibt es in jedem der sogenannten alten Bundesländer entsprechende Entschädigungsämter zum Beispiel in Düsseldorf, München und Berlin.
Manche Ämter haben dazu zusätzlich noch Sonderzuständigkeiten. In Saarburg zum Beispiel kümmert man sich um die Antragsteller mit Wohnsitz außerhalb Europas – also zum Beispiel in den USA und Israel. Aus diesem Grund laufen auch heute noch in Saarburg viele Anfragen auf, die aus der ganzen Welt kommen, weshalb man sich im kleinen Städtchen durchaus globaler sieht, als der Blick auf die Landkarte vermuten lässt. Britta Weizenegger beschreibt das Verfahren:
[Britta Weizenegger:]
„Man muss sich das so vorstellen, um das mal zu verkürzen: Man hat von dieser Antragsmöglichkeit erfahren entweder durch jüdische Organisationen, durch die Bundesregierung, wie auch immer, und hat dann eben in Deutschland meist dann in einer Entschädigungsbehörde, wenn das nicht die richtige war, wurde an die zuständige verwiesen, einen Antrag geltend gemacht und die bekamen dann einen sogenannten Mantel-Bogen. In den konnten sie erst mal Name, Geburtsdatum usw. eintragen, also Grunddaten und ankreuzen, welche Schäden sie geltend machen. Es gibt nämlich mehrere Schäden. Es gibt zum Beispiel Lebensschäden, weil sie einen Ehemann, Kinder im Nationalsozialismus verloren haben. Es gibt Gesundheitsschäden, Körperschäden, Freiheitschäden, das heißt, weil sie zum Beispiel einen Judenstern tragen mussten oder auch in einem Ghetto inhaftiert waren oder generell in Haft.“
Ok, Mantelbogen, Grunddaten, Schadensfall ankreuzen – das klingt mehr nach der Bearbeitung eines Versicherungsfalls als nach Wiedergutmachung. Für die Betroffenen war diese Vorgehensweise teils unerträglich und zudem noch höchst kompliziert. Britta Weizenegger deutet das auch an:
[Britta Weizenegger:]
„Die Herausforderung ist zum einen, das muss man ganz klar sagen, da ist ja die Verfolgung ist ja an diesen Menschen sehr hart, hat massiv in deren Leben eingegriffen. Die haben Angehörige verloren, die haben teilweise komplette Familien verloren, die sind aus ihren Heimatländern geflohen, nach dem Krieg und haben all das erlitten. Also da gab es häufig auch die Problematik, dass man gar nicht mit dem sogenannten damals für die sehr deutlichen Täterstaat agieren wollte.“
Die Behörden in Deutschland mussten die Anträge also irgendwie bearbeiten können und brauchten hierfür entsprechende Angaben der Überlebenden oder ihrer Verwandten. Für die aber stellte dies verständlicherweise häufig eine sehr große emotionale Belastung dar, gegenüber einer deutschen Verwaltung erst einmal in endlosen, unpersönlichen Formblättern Eintragungen machen zu müssen. Tosia Schneider, eine in die USA emigrierte Holocaust-Überlebende berichtet für das Zeitzeugen-Projekt „Zwangsarbeit 1939 – 45“, wie traumatisierend der Kontakt mit deutschen Behörden war und dass sie die Wiedergutmachung als unzureichendes und beleidigendes „Blutgeld“ empfand:
[Tosia Schneider:]
“I have a very strange relationship with that. When I was in Germany, they had formulars. They had papers that told you if you lost a mother, you will get compensated so much for a father, so much for a brother, whatever. And I remember seeing that and being so infuriated and saying: ‚You don’t have enough money to pay for all of that.‘ And I never wanted any compensation for family.”
Die reine Antragstellung war für Viele ein sehr schmerzhafter Prozess, weil hier natürlich die Trauer über die großen Verluste wieder an die Oberfläche geholt wurde. Zudem ist so ein Prozess auch sehr unpersönlich und Überlebende hatten häufig das Gefühl, dass ihnen „die Wahrheit“, also das, was sie erlebt hatten, nicht wirklich geglaubt wurde. In den ersten Jahren wurden Anträge in sehr vielen Fällen auch einfach direkt abgelehnt – es braucht nicht viel, um sich die Wirkung vorzustellen. Die Überlebenden trafen auf eine in vielen Fällen „unbarmherzige“ Bürokratie, es gab auch durchaus „alte Nazis“ in den Behörden.
Der gesamte Prozess der Entschädigung dauert Jahre und wird auch von Gesetzesnovellierungen und außerpolitischen Entscheidungen beeinflusst. Deutlich ist aber, im Laufe dieses Prozesses werden mehr und mehr Anträge bewilligt und v.a. auch mehr Schäden anerkannt. Insgesamt sind bis heute nach offiziellen Zahlen des Bundesfinanzministeriums 4,4 Millionen Anträge aus der ganzen Welt nach dem Bundesentschädigungsgesetz eingegangen. 1,2 Millionen wurden nicht anerkannt. Hinzu kommen viele hunderttausende Fälle, in denen Menschen über außergesetzliche Leistungen entschädigt worden sind. Und so kommt es, dass Britta Weizenegger, die nun heute ein Wiedergutmachungsamt leitet, schildert:
[Britta Weizenegger:]
„Ich höre häufiger mal, dass diese Personen im Endeffekt zweimal verfolgt wurden, einmal eben im Nationalsozialismus und später bei der Beantragung. Das kann ich aus meinen Berührungen mit den Rentenempfängern und auch mit den Akteninhalten nicht ganz nachvollziehen. Man hatte schon das Gefühl, es wurde sehr viel getan. Es gibt sicherlich Punkte im Bundesentschädigungsgesetz, die hätten möglicherweise angepasst werden können. Da kann man aber auch drüber diskutieren. Aber ich würde sagen, dass das eine schon recht fortschrittliches Gesetz war und das auch immer die politische und auch die medizinische Welt mit eingeflossen ist. Nehmen wir mal den Anfang, da wurden psychische Erkrankungen gar nicht so in den Fokus gerückt, weil die auch teilweise gar nicht geltend gemacht wurden. In den 80er Jahren wurde dann festgestellt, dass natürlich ein Konzentrationslager, eine Zwangssterilisation wahnsinnig viel aus Menschen macht und deren Leben nachhaltig verändert. Und dann wurden aber auch sehr schnell diese Sachen umgesetzt.“
Ja, aber diese „Einsicht“ kommt natürlich für viele, viele Betroffene viel zu spät. Und auch aus Sicht der Antragstellerinnen und Antragsteller sieht das natürlich häufig anders aus.
Imre Gönczi ist Auschwitz-Überlebender und berichtet von seinen Erfahrungen für das Zeitzeugen-Projekt. Seinen Blick auf das Bundesentschädigungsgesetz fasst er so zusammen:
[Imre Gönczi:]
„Das war ein sehr schlechtes, schlechtes Gesetz. Er wollte nur die Deutschen entschädigen.“
Und genauso gibt es auch die Fälle, bei denen es für die Überlebenden ganz gut funktioniert hat. Hier spricht die ehemals in Auschwitz inhaftierte Jutta Pelz-Bergt. Sie lehnt den Begriff Wiedergutmachung zwar kategorisch ab, hat aber im Kontakt mit den Behörden nicht nur schlechte Erfahrungen gemacht:
[Jutta Pelz-Bergt:]
„Die haben gesagt, naja, haben sie denn nicht Ihren Gesundheitsschaden anerkannt? Nee, sag’ ich. Das ist ja erst ´48 rausgekommen. Also los. Der wird sofort beantragt. Auch wenn’s erst ´48... Sie sind ja vorher nicht untersucht worden. Und nach zwei Monaten hatte ich das durch und bekam dann eine Rentennachzahlung von viertausend Mark und das war damals unheimlich viel Geld. Heute ist das ja nix, aber damals war das wirklich wahnsinnig viel Geld und da hab’ ich dann mir leisten können, meine Arbeit in Berlin aufzugeben und bin erstmal nach Israel gefahren.“
Zu Hochzeiten der Anträge nach dem BEG Mitte der 1960er Jahre, bearbeiten allein in Rheinland-Pfalz 760 Menschen die Akten der Antragsstellerinnen und Antragsteller. Auch in den anderen Bundesländern entsteht so über die Jahre ein enormer Bürokratie-Apparat, um den vielen Anträgen der Überlebenden gerecht werden zu können.
[Musikpause, kurzer tonaler Übergang]
Heute sind es noch neun Menschen, die in Saarburg diesen Dienst verrichten. Weil die Rentenempfänger immer weniger werden, haben die Beamten im Landesamt für Wiedergutmachung in Saarburg sehr viel persönlichen Kontakt zu jedem ihrer Antragstellerinnen und Antragsteller.
[Britta Weizenegger:]
„Und wir haben eine Dame aus Düsseldorf, die uns eigentlich jede Woche anruft und das sind immer nette Gespräche, auch wenn natürlich viel über die schlimme Vergangenheit gesprochen wird, wohl aber auch immer einen Blick auf das, was in Deutschland jetzt passiert. Also viele unserer Rentenempfänger machen sich, gerade was die Demokratie in Deutschland betrifft, viele Sorgen.“
Wir haben jetzt viel darüber gehört, wie das Antragsprozedere aus dem Ausland gelaufen ist. Interessant ist aber auch, was Menschen außerhalb Deutschlands über die Wiedergutmachungspolitik denken. Und dazu geht’s nach Utrecht in die Niederlande.
[Musik und tonaler Übergang]
Vielleicht habt ihr schonmal den Begriff „Transitional Justice“ gehört. Der fasst, grob gesagt, Prozesse und Praktiken zusammen, die den Übergang von einem gewaltsamen diktatorischen System in eine rechtsstaatliche Demokratie beschreiben. Dabei geht es u.a. auch um die Frage, wie erinnert wird und an wen erinnert wird. Die nach dem Krieg stattfindenden Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher und andere NS-Täter und auch Aspekte der deutschen Wiedergutmachungspolitik sind vereinfacht gesagt eine Art Startschuss für diese Disziplin. Dazu forscht zum Beispiel Nicole Immler, Professorin für Historical Memory und Transformative Justice an der Universität Utrecht in den Niederlanden.
[Nicole Immler:]
„Und da muss man ja sagen, dass in diesem Feld, also gerade die deutsche Wiedergutmachungspolitik einen großen Stellenwert hat und oft sehr als Ideal zirkuliert, weil sozusagen die Nürnberger Trials, das Luxemburger Abkommen, die individuellen, aber auch kollektiven Entschädigungsmaßnahmen, die sind halt sehr oft ein Referenzpunkt in Diskussionen, vor allem im Ausland. Also ich habe lange in Österreich gelebt und jetzt in den Niederlanden und dort in Ländern, wo eigentlich solche Maßnahmen relativ spät kamen und dann doch auch immer nach Deutschland geschaut wurde.“
Gerade im westlichen Ausland ist die deutsche Wiedergutmachungspolitik also durchaus ein Referenzpunkt, der heute noch herangezogen wird.
[Nicole Immler:]
„Ich glaube, grundsätzlich steht die Wiedergutmachungspolitik und die Maßnahmen dafür, dass ein Staat eigentlich viel versucht hat, um sich sozusagen dem Unrecht zu stellen und damit umzugehen, da auch Maßnahmen zu finden und zu implementieren und das auch alles praktisch gesehen wird mit der Idee, es ist sozusagen eine Annäherung ist an, ja es ist sozusagen ein Angebot.“
[Musik und tonaler Übergang]
Fassen wir noch einmal kurz zusammen:
Zu Beginn dieser Folge sind wir auf die Akten im Bundesarchiv eingegangen. Ihr erinnert euch an die Globalabkommen mit den zwölf westeuropäischen Ländern, die Entschädigungen für ihre Staatsbürger fordern. Da war ein wichtiger und strittiger Punkt das sogenannte Territorialitätsprinzip, also dass vereinfacht gesagt rechtlich nur die Menschen entschädigt werden konnten, die aus dem Deutschen Reich stammten oder zu einem Stichtag in der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben.
Da hat Tim Geiger vom Institut für Zeitgeschichte zu dieser Entstehung erläutert: Die Bundesrepublik hat diesbezüglich vor allem dann Zugeständnisse gemacht, wenn es aus außenpolitischen Gründen sinnvoll war.
Über die Gründe hierzu sagen die Akten aus dem Bundesarchiv viel aus. Hier nochmal Elke Hammer mit einer beispielhaften Passage:
[Elke Hammer:]
„Und hier geht es auch wieder um Bedenken des Finanzministeriums. Das sagt, wenn man jetzt diesen Artikel Fünf des Londoner Schuldenabkommens, den man so ein bisschen als Schutzschild nutzt, um erst mal nicht diese Entschädigungen zahlen zu müssen, wenn man den preisgibt, dann, so steht es hier, geht es, gibt es, ich zitiere mal wörtlich: ‚[…] keinen Damm mehr gegen die gewaltigen Ansprüche, die von der Sowjetunion und den Ostblockstaaten zu erwarten seien.‘“
Letztlich war man hier also fast gar nicht eigeninitiativ und reagierte auf Druck von außen. Für Betroffene, also Überlebende und ihre Angehörigen, war der Prozess der Beantragung und das bürokratische Verfahren häufig extrem belastend. Das konnte anfangs auch durchaus an den Mitarbeitern der Behörden liegen. Gleichzeitig hat die Erfahrung in Saarburg bei Britta Weizenegger gezeigt: Es ist trotzdem ziemlich viel passiert. 910.000 bearbeitete Akten nur in diesem einen Landesamt zeigen, dass sich über die Jahrzehnte eine Entwicklung mit – vorsichtig ausgedrückt – „positiver Tendenz“ eingestellt hat.
Und auch die Außenperspektive zeigt, dass die deutsche Wiedergutmachungspolitik mit großem Interesse über die Jahrzehnte von anderen Ländern verfolgt wurde und hier vielfältigen Einschätzungen und Bewertungen unterlag.“
Wie passen diese Wahrnehmungen zusammen? Wie kann es sein, dass die Politik der Wiedergutmachung so unterschiedlich bewertet wird: Nicole Immler von der Universität Utrecht hat eine Erklärung dafür. Sie glaubt, dass das davon abhängt, welche Ebene wir betrachten, wie der Prozess wahrgenommen wird und wer der Betrachter ist.
[Nicole Immler:]
„Gerade im Detail in der Erfahrung sind die Unzulänglichkeiten, und das ist doch eigentlich fast in allen Menschen, mit denen ich gesprochen habe in den letzten Jahren, dass das im individuellen Bereich die Entschädigungen doch sehr mühsam waren, sehr viele Verletzungen verursacht haben und es also ein langer Prozess ist. Und wir wissen eigentlich, es geht nicht nur darum, was Leute bekommen. Also sowieso geht es fast nie ums Geld. Es geht darum auch, wie der Prozess gestaltet ist. Wenn dieser Prozess zu lange dauert, zu undurchsichtig ist, Ungerechtigkeiten enthält und so, dann ist dieser Prozess, der wird mit bewertet, der steht lose von dem, was zum Schluss herauskommt, als Entschädigungszahlung, als Pension.“
Auch wenn dies sich über Jahre etwas verbessert haben mag: Die Überlebenden empfanden die Antragsprozesse teils als traumatisch. Und es gab auch Überlebende, die überhaupt nie wieder in irgendeinen Kontakt mit Deutschland treten wollten – auch nicht, um Entschädigung zu beantragen. Hier nochmal einmal Tosia Schneider aus den USA:
[Tosia Schneider:]
„I just could not want a letter coming with a German stamp, from a German place to me after the war. I just wanted to cut that off completely. It was not very wise, because we struggled. We didn’t have any money when we were young, but I couldn’t deal with it.“
[Musik und tonaler Übergang]
In dieser Folge haben wir jetzt viel über die internationale Dimension der Wiedergutmachung gesprochen. In der kommenden Folge reden wir über und mit Menschen, deren Leid häufig jahrzehntelang ignoriert oder ihnen sogar abgesprochen wurde: über die sogenannten Vergessenen Opfer.
[Markus Metz:]
„Die Gesellschaft hat sich eher dadurch ausgezeichnet, dass ihr das Schicksal der Sinti und Roma völlig egal war, dass da keine Empathie für die Belange der Minderheit herrschte und soweit auch kein öffentlicher Druck auf die staatlichen Entscheidungsträger entstanden ist.“
Mehr dazu in der nächsten Folge von „The German Wiedergutmachung.“
Wenn euch dieser Podcast gefällt, freuen wir uns über eine Fünf-Sterne-Bewertung und empfehlt uns gerne weiter! Ihr habt Fragen zu dem Thema oder wollt nun selbst in den Akten stöbern? Den Kontakt dazu gibt’s in den Shownotes.
„The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Das Themenportal ist ein Kooperationsprojekt vom Bundesarchiv, dem Landesarchiv Baden-Württemberg und FIZ Karlsruhe im Archivportal-D. Initiiert wurde und finanziert wird es vom Bundesministerium der Finanzen.
The German Wiedergutmachung ist eine Produktion von Escucha - Kultur fürs Ohr im Auftrag des Bundesarchivs. Ich bin Nora Hespers. Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha - Kultur fürs Ohr. Cover: Hauer + Dörfler.
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