Episode 3: Kampf um Anerkennung

Shownotes

In der dritten Folge geht es um die Wiedergutmachung für die in der NS-Zeit verfolgten Sintizze und Romnja. Sie stehen dabei stellvertretend für die sogenannten „Vergessenen Opfer“ (wie Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“, „Berufsverbrecher“ oder „Wehrkraftzersetzer“), deren Leid erst Jahrzehnte nach dem Nazi-Terror gesellschaftliche und politische Anerkennung und Entschädigung erfuhr. „The German Wiedergutmachung“ fragt den Vorsitzenden des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, nach seinem Gespräch mit Helmut Schmidt 1982, in dem der Bundeskanzler den Völkermord an den Sinti und Roma anerkannte. Außerdem äußert sich die Präsidentin des Bundesgerichtshofes, Bettina Limperg, über ein Skandalurteil aus den 1950er Jahren, und Markus Metz vom bayerischen Landesverband der Sinti und Roma berichtet über die Erfahrungen der Sintizze und Romnja mit den deutschen Behörden in den Wiedergutmachungsverfahren.

Musik

  • Duo Z: LP „Ganz Anders – Deutsche Zigeunerlieder“, Text und Musik: Duo Z (Tornado Rosenberg, Rudko Kawczynski), im Verlag „pläne“ GmbH, Dortmund 1981.

Zu den Ereignissen und Personen

  • Urteile des Bundesgerichtshofs vom 7. Januar 1956 (in: Die Präsidentin des BGH / Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Doppeltes Unrecht – eine späte Entschuldigung, Eggenstein 2016, S. 25–40): Link
  • Der nicht überlieferte „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers erging am 16. Dezember 1942, dessen Umsetzung erfolgte mit Schnellbrief des Reichssicherheitshauptamts vom 29. Januar 1943: PDF
  • Protokoll des Bundesdeskanzleramts über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Vertretern des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma am 17. März 1982 (BArch, B 136/28311): PDF
  • Landfahrerordnung, 22. Dezember 1953 (BayGVBl. 1953, S. 197–198): Online-Version

Links

  • Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“: Link
  • Bundesarchiv: Link
  • Bundesgerichtshof: Link
  • Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Link

Literatur zum Thema

  • Katalog zur Ausstellung „45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma“. Herausgegeben vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2017. PDF
  • von dem Knesebeck, Julia: The Roma Struggle for Compensation in Post-war Germany, Hatfield 2011. Online-Version

Weitere Infos zur Podcast-Folge unter: https://www.archivportal-d.de/content/themenportale/wiedergutmachung/podcast

Moderation: Nora Hespers, Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha – Kultur fürs Ohr. Cover: Kreativagentur Atelier Hauer+Dörfler GmbH. Coverbild: Antragsteller bei der URO (© bpk) | Bundesarchiv

Der Podcast „The German Wiedergutmachung“ ist eine Produktion für das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ – der Online-Plattform für Wiedergutmachungsakten, konzipiert und in Auftrag gegeben durch das Bundesarchiv. Die Umsetzung gestaltete Escucha – Kultur fürs Ohr. Die Finanzierung erfolgte durch das Bundesministerium der Finanzen.

Transkript anzeigen

Podcast „The German Wiedergutmachung“

Folge 3: Kampf um Anerkennung

Bevor es losgeht ein kurzer Hinweis: In dieser Folge sprechen wir viel über die Geschichte der Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja. Weil wir viele historische Quellen und Aussagen verwenden, wird häufiger mal das Z-Wort fallen. Das ist eine rassistische Fremdbezeichnung. Du wirst es auch direkt in einem bitterbösen, satirischen Lied von Duo Z hören.

[Musik: Duo Z – Lustig wär das Zigeunerleben:]

„Lustig wär‘ das Zigeunerleben, faria, faria, ho. Würd‘ ihm der Staat seine Rechte geben, faria, faria, ho. Schön wär‘ es in einem Staat, der aller Menschen Rechte wahrt, faria, faria, faria, faria, faria, faria.“

Diese Satire auf ein ebenso bekanntes wie beliebtes Volkslied wurde von Rudko Krawczynski und Tornado Rosenberg im Jahr 1981 veröffentlicht. Mit ihrem Album „Ganz anders“ produzierte das Duo Z Lieder, die mit bissigen Texten auf die Situation ihrer Minderheiten aufmerksam machten. Und mehr noch: Als Bürgerrechtsaktivisten setzten sie sich immer wieder an die Spitze von Protesten und Hungerstreiks, um die Rechte von Sinti*zze und Rom*nja gegenüber dem deutschen Staat einzufordern.

[Musik: Duo Z – Zigeuner sollte man nicht sein:]

„Sie haben uns fast ausgerottet und ich Idiot ich leb‘ noch immer hier. Ein Zigeuner sollte man nicht sein. So einer der die anderen doch bloß stört.

In dieser Folge von „The German Wiedergutmachung“ wollen wir diese Perspektive erzählen. Sinti*zze und Rom*nja stehen für die sogenannten „Vergessenen Opfer“. Dazu zählen auch zum Beispiel Homosexuelle, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, Zwangssterilisierte und Euthanasiegeschädigte sowie von den Nazis als sogenannte „Asoziale“, „Berufsverbrecher“ oder „Wehrkraftzersetzer“ Verfolgte. Bis diese Verfolgtengruppen eine Anerkennung durch die Bundesrepublik erfahren haben, war es ein langer, harter Weg, der nur durch viele gesellschaftliche und politische Veränderungen möglich war. Weshalb die Betroffenen selbst inzwischen als „Verleugnete Opfer“ von sich sprechen. Davon wollen wir euch heute am Beispiel der Sinti*zze und Rom*nja erzählen.

Auch dieses Mal schlagen wir wieder Akten aus dem Bundesarchiv auf, die ihr im neuen Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ entdecken könnt.

Es geht um ein Gespräch aus dem Jahr 1982 zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, Zeitzeuge und Betroffener.

[Romani Rose:]

„Wir alle waren natürlich sehr angespannt, sehr innerlich, sehr aufgeregt und aufgewühlt, weil der Nationalsozialismus hat einen Bruch entstehen lassen zwischen unserer Minderheit und dem Selbstverständnis, Deutsche zu sein.“

Außerdem sprechen wir mit der Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg über ein Skandalurteil des Gerichts, das Sinti*zze und Rom*nja ein weiteres Mal in die Nähe von Kriminellen rückt.

[Bettina Limperg:]

„Die Rolle der Justiz ist gewesen und wäre gewesen für die betroffenen Gruppen, ich würde sagen möglichst großzügig die Entschädigungsgesetze umzusetzen. Das ist nicht geschehen.“

Und wir reden mit Markus Metz. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern. Er berichtet vom steinigen Weg zur Anerkennung von Unrecht und die wichtige Rolle, die Akten und ihre Verfügbarkeit dabei spielen.

[Markus Metz:]

„Ja, Sinti und Roma waren erst einmal auf sich selbst gestellt. Die einzige Unterstützung eben durch Rechtsanwälte, die sie bezahlen mussten, die dann auch aus der Wiedergutmachung ihr Honorar zum Großteil dann eben abgezogen haben.“

Ich bin Nora Hespers, Journalistin, und das ist „The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportals „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“.

Folge 3: „Kampf um Anerkennung“.

[Akten werden aufgeschlagen]

[Anette Mertens:]

„Wir haben jetzt hier eine Akte, die stammt aus dem Jahr 1982 und stammt aus der Abteilung für innere Angelegenheiten. Genau genommen aus dem Referat, was unter anderem für Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland zuständig war. Die schaut sehr viel bunter aus, als man sich das möglicherweise vorstellen würde. Das ist also nicht nur einfach schwarz auf weiß, sondern wir sehen hier jede Menge, ja tatsächlich farbige Spuren, Filzschreiber und Ähnliches. Und diese Farben haben eine ganz besondere Bedeutung so innerhalb der Verwaltung. Mit dem grünen Stift darf immer nur der Behördenleiter unterzeichnen und schreiben. Das ist in dem Fall der Bundeskanzler. Und was ich Ihnen hier mitgebracht habe, sind Unterlagen zu einem Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt.“

Das ist Annette Mertens. Sie ist Archivarin im Bundesarchiv und zuständig für Akten der Bundesverwaltung. Vor ihr liegen zwei dicke Papp-Ordner mit einem Einband, der ein wenig an künstliches Schlangenleder erinnert. Sie alle tragen die Signatur B 136, die Bezeichnung für Akten aus dem Bundeskanzleramt, also von ganz oben.

Es ist ein siebenseitiges Briefing, eine sogenannte Vorlage, geschrieben mit Schreibmaschine, das den damaligen Kanzler Helmut Schmidt auf ein Treffen mit dem neu gegründeten Zentralrat der Sinti und Roma vorbereiten soll.

[Anette Mertens:]

„Und hier wird jetzt zunächst noch mal skizziert: Wer sind überhaupt die Teilnehmer? Also wen hat Schmidt zu erwarten, wer wird ihn da besuchen? Das war nicht Romani Rose allein, sondern noch mehr Vertreter des Zentralrats. Dann fasst er noch mal, der Verfasser des Vermerks noch einmal kurz die Vorgeschichte zusammen. Hier steht der Gesprächswunsch wird seit 1978 vorgebracht, also erläutert noch mal wie waren die Abläufe, wie kam es zu diesem Gespräch. Warum hat es so lange gedauert, bis diese Vertreter zugelassen wurden? Dann listet er auf, welche Gespräche vorher schon stattgefunden haben, beispielsweise, und bringt einfach die, die wichtigsten Informationen auch inhaltlich, die wichtigsten Wünsche, von denen man erwarten kann, dass sie vorgetragen werden, listet er hier auf, um den Kanzler eben bestmöglich auf das Gespräch vorzubereiten.“

Und auch im Anschluss an das Treffen vom März 1982 finden sich Vermerke in den Akten.

[Anette Mertens:]

„Also es sind überwiegend Absichtserklärungen, wichtige Themen für die Sinti und Roma waren ja, dass sie nicht so sehr als Minderheit behandelt werden wollten, dass sie vor allem bei der Wiedergutmachung stärker berücksichtigt werden wollten, als das bisher der Fall war, fühlten sich also sozusagen doppelt benachteiligt, einmal durch ihre Verfolgung im Dritten Reich und durch die zweite Diskriminierung, die dann durch die Wiedergutmachung dadurch entstand, dass sie eben ja zunächst mal nicht zum Opfer-Kreis gehörten und erst im Nachhinein sozusagen in die Wiedergutmachung einbezogen wurden.“

Was sich in den Akten zunächst wie ein normales Arbeitstreffen zwischen dem Bundeskanzler und einer Gruppe von Interessenvertretern liest, hat Geschichte geschrieben. Denn ein Bundeskanzler erkennt hier erstmals die nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber den Sinti*zze und Rom*nja als Völkermord an. Die Ermordung europäischer Sinti*zze und Rom*nja ist trauriger Höhepunkt einer Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung während der gesamten NS-Zeit, die sich auf einen ethnischen und sozialen Rassismus stützte. Die Anerkennung dieser Verbrechen erfolgte erst fast vier Jahrzehnte später!

Wie kann es sein, dass die Verfolgung und Ermordung mehrerer hunderttausend Menschen für die deutsche Regierung keine Rolle gespielt hat? Dafür müssen wir zum Beginn der Nachkriegszeit.

[Musik, Tonaler Übergang]

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Terrorherrschaft arbeiten die einzelnen Bundesländer auf Druck der Besatzungsmächte an den ersten Rückerstattungsgesetzen – ihr erinnert euch, das hatten wir in Folge 1. Unter den Überlebenden sind mehrere Tausend Sinti*zze und Rom*nja aus Deutschland und Österreich. Sehr viele von ihnen wurden zwangssterilisiert, waren Häftlinge in Konzentrationslagern, mussten Zwangsarbeit leisten. Sie kehren schwer traumatisiert an ihre Heimatorte zurück. Willkommen sind sie nicht. Weder bei der örtlichen Gesellschaft noch beim Staat, sagt Markus Metz, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentralrat der Sinti und Roma Bayern.

[Markus Metz:]

„Viele sprechen von zweiter Verfolgung. Man muss aufpassen, dass man die NS-Verfolgung dadurch nicht relativiert, aber eine staatlich gewollte Benachteiligung der Minderheiten, der systematische Ausschluss aus vielen gesellschaftlichen Bereichen ist zu beklagen gewesen und hat vielen den Start in ein Leben nach der Verfolgung im Dritten Reich enorm erschwert. Viele konnten keine Schulausbildung durchlaufen, weil sie von den Nationalsozialisten, noch bevor die Familien in die Konzentrationslager deportiert worden sind, aus der Schule ausgeschlossen worden sind. Das hat ihnen enorme Startschwierigkeiten natürlich nach dem Krieg bereitet und ist nach dem Krieg auch in keinster Weise kompensiert worden.“

Eine Minderheit, die auch vor dem Krieg in großen Teilen verarmt war, trifft auf eine in der Regel feindselig eingestellte Mehrheitsgesellschaft.

Der Alltag von Sinti*zze und Rom*nja ist durch Ausgrenzung und Stigmatisierung und teils durch offene Gewalt gekennzeichnet. Es kommt immer wieder zu Überfällen, auch zu Fällen tödlicher Polizeigewalt und zu schweren Sachbeschädigungen, die Sinti*zze und Rom*nja ihre Lebensgrundlage nehmen.

[Markus Metz:]

„Die Gesellschaft hat sich eher dadurch ausgezeichnet, dass ihr das Schicksal der Sinti und Roma völlig egal war, dass da keine Empathie für die Belange der Minderheit herrschte und soweit auch kein öffentlicher Druck auf die staatlichen Entscheidungsträger entstanden ist.“

Zusätzlich gibt es auch ganz klare staatliche Repressionen. Viele derartige Regelungen stammen noch aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik und sind bislang einfach nicht angetastet worden. 1953 kommt eine ganz neue bayerisches Verordnung hinzu, die selbst aus Sicht der 50er Jahre wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat: die Landfahrerordnung von 1953.

[Markus Metz:]

„Dann hat man flugs diese Landfahrerordnung erlassen und das Bayerische Landeskriminalamt hat im Grunde alle Familien von Sinti und Roma völlig verdachtsunabhängig erfasst, systematisch in Polizei-Akten überführt, im Übrigen Aktenbestände des Reichssicherheitshauptamtes, also der Verfolgungsbehörde, wenn man so will, des Dritten Reichs, weitergeführt. Einfach einen anderen Aktendeckel oben drauf geklebt und dann die gesamte Minderheit weiter systematisch erfasst und insoweit einem Generalverdacht ausgesetzt. Und das ist das Ungeheuerliche.“

Man hat also einfach die Akten und Karteien der NS-Zeit weitergeführt. Klingt erst einmal nach Verwaltungskontinuität. Aber dahinter steht ein hochpolitischer Vorgang, der an den Unterlagen mit Händen zu greifen ist. Die systematische Erfassung war bei den Nazis die Voraussetzung der systematischen Verfolgung. Sie beruhte auf einem tödlichen, pseudowissenschaftlich begründeten Rassismus. Die Akten einfach weiterzuführen, heißt, die gesellschaftliche, politische und juristische Wahrnehmung dieser Menschen als eine unter Beobachtung stehende Gruppen fortzuschreiben. Und das ist die Voraussetzung für eine ungerechte Behandlung. Diese Praxis gab es in einer ganzen Reihe von Bundesländern.

Das Vorhaben wird von Menschen bei Polizei und Sicherheitsbehörden unterstützt. Es sind häufig die Menschen, die früher für die Deportation von Sinti*zze und Rom*nja nach Auschwitz verantwortlich gewesen sind.

Erst 1970 wird diese Regelung abgeschafft.

[Musik]

In Sachen Entschädigung und Wiedergutmachungsleistungen spielen diese Dinge eine wesentliche Rolle in der Nachkriegszeit. Denn mit Klischees und Vorurteilen werden Sinti*zze und Rom*nja Wiedergutmachungsleistungen immer wieder streitig gemacht.

Wiedergutmachung bekommt nur der, der aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt wurde. Durch die fortlaufende Kriminalisierung dieser Minderheit verfestigt sich aber folgendes Bild in vielen Köpfen: Sinti*zze und Rom*nja klauen, halten sich an keine Regeln und sind deswegen früher auch zu Recht verhaftet worden – und nicht aufgrund von Rassismus.

Dazu kommen fehlende Zugänge. Viele Betroffene sind zum Beispiel mit den Anträgen überfordert und haben keine finanziellen Möglichkeiten, sich rechtliche Beratung zu organisieren. Und im Gegensatz beispielsweise zur Jewish Claims Conference auf jüdischer Seite gibt es keine Organisationen, die ihnen hier zur Seite stehen könnten.

Wo sich ihre Ansprüche nicht von der Hand weisen lassen, werden Sinti*zze und Rom*nja dazu gedrängt, sich auf einen Vergleich zu einigen. Dazu Markus Metz:

[Markus Metz:]

„Hat man dem zugestimmt, konnte relativ schnell, wenn die übrigen Voraussetzungen gegeben waren, eine sogenannte Vermutungsrente in Höhe der jeweiligen gesetzlichen Mindestrente war das dann und die ist relativ niedrig gewesen, erzielt werden. Anwälte haben sehr oft ihren Mandanten dazu geraten. Dabei war jeweils ausgeschlossen, dass später ein Leidensverschlimmerungsverfahren erfolgen konnte. Also wenn hinterher x Gutachten der besten Mediziner vorgelegt wurden, die besagten, sie haben im Konzentrationslager schwerste Schäden erlitten mit Folgeerkrankungen aller Art war das irrelevant für das Verfahren. Die Betroffenen haben sich auf einen Vergleich, der beide Parteien bindet, eingelassen – das ist das Wesen eines Vergleichs – und hatten dann leider keine Möglichkeit, später einmal in einem sogenannten Leidensverschlimmerungsverfahren eine Erhöhung ihrer Rente zu erwirken. Was anderen Verfolgten, die sich nicht auf diese sogenannte Vermutungsrente eingelassen haben, möglich war.“

Markus Metz sagt, das über ein Drittel aller Anspruchsberechtigten diese Vergleiche annahmen.

[Musik: Duo Z – Zigeuner sollte man nicht sein:]

„Sie sagen sie haben‘s wiedergutgemacht mein Bruder. Ich hätte getauscht Geld gegen dein Gebein. Ja, ich hab‘ die paar Mark angenommen, mein Bruder. Denn es ist schwer hier unten arm zu sein.“

Einige Betroffene aber wollen ihren Anspruch vor Gericht durchsetzen. 1956 kommt es zu einem Fall, der vorm Bundesgerichtshof landet. Und der fällt ein Urteil, das fatale Auswirkungen hat:

[Musikalischer Übergang]

[Bettina Limperg:]

„Das sind im Grunde zwei Urteile. Eines ist veröffentlicht worden, das andere war am selben Tag verkündet worden. Diese beiden Entscheidungen befassen sich mit Ansprüchen von einem Mann und einer Frau, die der Volksgruppe der Sinti und Roma angehörten und die im Jahr 1940 auf Grund eines Erlasses von Himmler deportiert worden sind und zwar in einer Art und Weise, was die Art der Deportation als auch das Ziel, als auch die Dauer und die Umstände der Deportation anging klar aus rassistischen Gründen, nämlich antiziganistischen Gründen erfolgt sind.“

Das ist Bettina Limperg. Sie ist die Präsidentin des Bundesgerichtshofs. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist das oberste Gericht in Deutschland, wenn es um zivile und strafrechtliche Verfahren geht. Er entscheidet über Revisionen der Landgerichte und Oberlandesgerichte.

Auch in unserem Fall aus dem Jahr 1956 ist es so, dass sich der Bundesgerichtshof zwei Urteile der Vorinstanzen genauer anschauen soll. Die Kläger hatten in den ersten beiden Instanzen gegen die ablehnenden Bescheide der Entschädigungsämter Recht bekommen: Da sagten die Gerichte: Ihr seid im Jahr 1940 als Sinti und Roma aus rassischen Gründen verfolgt und deportiert worden. Doch die Entschädigungsbehörde bzw. das zuständige Land legten Berufung bzw. Revision gegen die Urteile ein.

Sie argumentieren, dass Sinti*zze und Rom*nja erst mit dem sogenannten Auschwitzerlass aus dem Jahr 1942/43 rassisch verfolgt wurden – aber nicht vorher. In diesem Erlass fordert Himmler systematische die Deportation nach Auschwitz. Auch die „Vernichtung durch Arbeit“ hat Himmler im Umgang mit den Sinti*zze und Rom*nja explizit angeordnet.

Für die Entschädigungen ist das zentral: Nur wer Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes ist, kann auch entsprechende Leistungen erhalten. Und man ist insofern nur dann Verfolgter, wenn man – wie es im Bundesentschädigungsgesetz heißt – aus „Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde.

Das Verfahren landet schließlich beim Bundesgerichtshof. Und der entscheidet ganz anders, sagt Bettina Limperg.

[Bettina Limperg:]

„In diesem Urteil wurde zwar festgestellt, dass es sich um nationalsozialistische Gewalt gehandelt hat, aber es wurde negiert, und zwar mit sehr ausführlicher und unerträglicher Begründung, dass es sich dabei um eine rassistische Verfolgung gehandelt hat. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof versucht darzulegen, dass es um letztlich polizeirechtlich legitime Zwecke gegangen sei.“

Heißt: Das höchste Gericht im demokratischen Deutschland sagt im Jahr 1956, dass Sinti*zze und Rom*nja vor 1943 nicht rassisch verfolgt worden sind, sondern lediglich aufgrund von polizeilichen Maßnahmen.

Hier mal ein Zitat aus der Urteilsbegründung und nochmal eine kurze Warnung: Die damaligen Ansichten und der Sprachgebrauch können auf betroffene Menschen retraumatisierend wirken. In dem Urteil steht tatsächlich wortwörtlich:

„Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Sesshaftmachung und damit der Anpassung an die sesshafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist (vgl. hierzu Groß-Seelig, Handbuch der Kriminalistik 8./9. Aufl. Seite 99 Note 4). Sie wurden deshalb allgemein von der Bevölkerung als Landplage empfunden.“

[Bettina Limperg:]

„Als ich zum Ersten Mal mit Romani Rose am Rande eines anderen Symposions über diese Dinge sprach, muss ich gestehen, hatte ich mich mit dem Thema noch gar nicht befasst. (…) Und er zitierte dann etwas aus dem Urteil, was ich nicht geglaubt habe. Ich bin nach diesem Gespräch am Abend, als ich wieder ins Büro kam, sofort zu meinem Bücherschrank und habe diese Entscheidung rausgesucht, weil ich dachte, ich lese das jetzt mal und dann verstehe ich das und kann sozusagen sagen: Ist nicht ganz so schlimm gewesen. Und dann habe ich es gelesen und habe es noch mal gelesen und noch mal gelesen. Und es war viel schlimmer noch, als er mir das geschildert hatte. Und daraus ist dann auch der Gedanke entstanden, dass wir uns dafür nicht nur entschuldigen müssen, sondern dass wir eine tiefe Scham über diese Rechtsprechung unseres Hauses zum Ausdruck bringen müssen.“

Wie konnte so ein Urteil mit solchen Worten formuliert werden? Das zu erklären ist gar nicht so einfach. Es ist zwar nachgewiesen, dass viele Richterposten noch lange mit Personen besetzt waren, die eine NS-Vergangenheit haben. Doch gerade in diesem Fall trifft das nicht zu:

[Bettina Limperg:]

„Zugleich muss man aber sagen, dass der Berichterstatter, also das heißt die verantwortliche Richterperson, die diese Urteile, diese speziellen Urteile vorbereitet hat und für die Kollegen aufbereitet hat, selbst ein Richter gewesen war, der 1933 aus auch rassistischen Gründen aus dem richterlichen Dienst entfernt worden war und verfolgt worden war durch die Nationalsozialisten und dann wieder nach Ende dieses Unrechtssystems wieder zum Richter berufen wurde. Und dass nun ausgerechnet eine solche Person, die ihrerseits verfolgt worden war, an einem solchen Urteil mitwirken konnte. Das ist für mich kaum nachvollziehbar.“

Selbst ehemals Verfolgte brechen nicht mit der Stigmatisierung von Sinti*zze und Rom*nja, erkennen ihre Verfolgung und den Umfang ihrer Verfolgung nicht an.

Vielleicht zeigt das, wie tief Ablehnung und Rassismus in der Gesellschaft verankert sind – und wie ausgeliefert Sinti*zze und Rom*nja diesem zu der damaligen Zeit waren.

Ganz praktisch bedeutet das Urteil, dass diese Menschen keine Entschädigungsleistungen wegen Verfolgungen erhalten können, die vor dem sog. Auschwitz-Erlass Himmlers stattfanden. Denn nach dem Bundesentschädigungsgesetz gelten sie für diese Zeit nicht als rassisch Verfolgte des NS-Systems. Doch es regt sich Widerstand innerhalb der Justiz. Eine Vielzahl von Landgerichten und Oberlandesgerichten stellen sich gegen das Urteil. Insbesondere ein Richter spielt hier eine besondere Rolle:

[Bettina Limperg:]

„Da vor allem ein Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt, ein Senatsvorsitzender, der hieß Calvelli-Adorno, war seinerseits auch Verfolgter gewesen, aber genau wie der Berichterstatter beim Bundesgerichtshof, der das Urteil mitzuverantworten hatte. Und der hat nicht nachgelassen, die Sache rechtlich und historisch weiter aufzuarbeiten. Und hat 1961 dann einen brillanten Vortrag veröffentlicht, als Autor einer letztlich dann wissenschaftlichen Abhandlung, nicht als Richter. Und es war wohl dieser Aufsatz gemeinsam dann mit einzelnen anderen Stimmen. Es gab einen Rechtsanwalt, Schüler, der auch parallel eine solche also Schriften veröffentlicht hat und offensichtlich waren es diese beiden brillanten Köpfe und aber auch die Rechtsprechung, vor allem von Hamburg und Frankfurt, die nicht aufgegeben haben, die den BGH dazu bewogen haben, seine Rechtsprechung zu ändern, ohne aber sich zu seiner zweiten Schuld zu bekennen.“

Also sieben Jahre später, im Jahr 1963, erfolgt die Aufgabe dieser Rechtsprechung durch eine andere Entscheidung des BGH. Sinti*zze und Rom*nja haben also ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Entschädigungsleistungen für Verfolgungen vor 1943.

[Bettina Limperg:]

„Der BGH hat auch als er dann die Rechtsprechung aufgegeben hat sich nicht entschuldigt für diese Entgleisungen. Er hat einfach die Rechtsprechung geändert und hat so als wäre das nur ein kleiner sachlicher Fehler gewesen, gesagt nicht erst seit 1942 mit dem Auschwitz Erlass und dann später mit den Deportationen seit 43 ist es rassistisch motiviert gewesen, sondern eben schon vorher. Also er hat so getan, als gebe es nur so ein kleines Gap so zwischen 1940 und 42, da haben wir uns jetzt leider vertan.“

In der Zwischenzeit sind viele nun anspruchsberechtige Personen verstorben oder haben den letzten Rest Vertrauen in das staatliche System verloren. Viele der ehemals Verfolgten ziehen sich zurück. Sie fühlen sich von der bundesrepublikanischen Wiedergutmachungspolitik ausgeschlossen. Die BGH-Rechtsprechung hatte hier eine fatale Wirkung, auch wenn das Schlussgesetz vom Bundesentschädigungsgesetz neue Anträge von Sinti*zze und Rom*nja für die Zeit vor 1943 ermöglichte und Gerichte immer wieder positive Entschädigungsentscheidungen durchsetzten.

BGH-Präsidentin Bettina Limperg ist die erste Person dieser Institution, die bei einem gemeinsamen Symposium mit dem Zentralrat der Sinti und Roma im Jahr 2016 um Entschuldigung für das Versagen der Justiz bittet.

Es ist vor allem die Generation der Kinder der Verfolgten, die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren das ganze Thema wieder auf den Tisch bringt, im Umfeld einer zunehmenden gesellschaftlichen Aufarbeitung des NS-Terrors.

[Romani Rose:]

„Ich habe die Leiden meines Vaters gesehen. Meine Eltern haben nicht uns etwas erzählt, was ihnen angetan worden ist. Und wenn irgendwelche Verwandten gekommen sind, die ebenfalls von diesen schrecklichen Verbrechen betroffen waren und man dann in ein Gespräch versunken ist, dann haben wir etwas mitbekommen. Für uns war das als Kinder zunächst mal eine spannende Geschichte. Aber danach haben wir gemerkt, dass es demütigend war, dass es erniedrigend war, dass es ein Verbrechen war und wir als Kinder sind da drüber nicht hinweggekommen über diese Heuchelei.“

Das ist Romani Rose, seit über 40 Jahren Aktivist und Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland. Auch in seiner Familie war Diskriminierung ständig präsent:

[Romani Rose:]

„Ich gebe Ihnen ein interessantes Beispiel: Mein Onkel hat so Mitte der 50er Jahre einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Er wurde hier in die Universitätsklinik Heidelberg einbestellt, zu einem Gutachten über seinen Verfolgungsschaden im gesundheitlichen Sinn. Der Arzt saß ihm gegenüber, blätterte in den Akten herum. Mit einmal hatte er eine längere Zeit an einer Akte verweilt, sagte zu meinem Onkel: ‚Herr Rose, ich muss noch etwas anderes schnell besorgen. Ich komme aber wieder zurück. Ich bitte Sie, dass Sie hier einen Moment sitzen bleiben.‘ Dann nahm er die Akte, drehte sie herum und legte sie meinem Onkel vor, dass gesagt worden ist, sie zogen durchs Reichsgebiet und ernährten sich von Diebstählen und Einbrüchen.“

Roses Onkel war nicht vorbestraft. Die rassistische Vorverurteilung war aber wie selbstverständlich Teil der Akte, die seinen Entschädigungsantrag enthält. Die systematische behördliche Erfassung und der Generalverdacht der Nazis wird, als sei es eine relevante, objektive Tatsache, dem bundesrepublikanischen Verfahren beigefügt.

Schlaglichtartig wird hier deutlich, wie wichtig es ist, all diese Entschädigungsanträge im gesamten Kontext der Akten zu sehen, sie zugänglich zu machen und die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe zu beleuchten. Im Themenportal zur Wiedergutmachung werden diese Unterlagen durchsuchbar gemacht, kontextualisiert.

So lässt sich auch der Wandel in der Wiedergutmachungspolitik viel besser nachvollziehen. Denn im Umgang mit den sogenannten „Vergessenen Opfern“ tut sich etwas im Laufe der Jahre. Es sind Aktivisten, engagierte Vertreterinnen und Vertreter, die den Mund aufmachen – bei den Sinti und Roma in enger Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Menschen wie Romani Rose oder die Liedermacher vom Duo Z. Sie veröffentlichen ein Memorandum an das Bundeskanzleramt und sorgen mit Aktionen für Aufsehen, bei denen wieder die Akten eine zentrale Rolle spielen.

Eine davon ist der Hungerstreik von Dachau 1980. Die zwölf Streikenden fordern die Herausgabe von Akten, die über Sinti*zze und Rom*nja während der Zeit des Nationalsozialismus und noch danach angelegt worden sind. Darüber hinaus wollen sie eine Rehabilitierung der Minderheit, also die Rücknahme von kriminalisierenden Gesetzen und Urteilen und eine öffentliche Distanzierung von der Landfahrerzentrale.

Die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti*zze und Rom*nja hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Akten, die in der NS-Zeit über Sinti*zze und Rom*nja angelegt worden waren, an das Bundesarchiv in Koblenz zu übergeben.

Dort sollten sie für die Aufarbeitung des Völkermords zugänglich gemacht werden. In Tübingen hatten sogenannte „Rassenforscher“ die versteckt gehaltenen Akten jahrzehntelang weiter für pseudowissenschaftlichen Forschungen verwendet. 18 Sinti besetzten daher am 2. September 1981 den Keller des Tübinger Universitätsarchivs und verlangten die Herausgabe der Unterlagen. In der Folge kamen die Akten tatsächlich ins Bundesarchiv und sind dort einsehbar. Jedoch waren die circa 20.000 sogenannten „NS-Rassengutachten“ der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, die die Grundlage für den NS-Völkermord gebildet hatten, nicht darunter. Diese Akten sind bis heute verschwunden.

Markus Metz, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentralrat der Sinti und Roma in Bayern:

[Markus Metz:]

„Es gab dann auch Unterstützung durch Journalisten, teilweise dann auch durch einige wenige Politiker. Das hat dann aber zur Bildung von Öffentlichkeit geführt. Die Anliegen der Minderheit sind erstmals eben auch in den Mainstreammedien diskutiert worden und insoweit hat sich dadurch dann ein Wandel allmählich auch gezeigt.“

Auf einmal nimmt die Gesellschaft Anteil am Schicksal der Verfolgtengruppe. Der Protest löste eine breite öffentliche Solidaritätswelle aus und markierte einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Minderheit. Diese Öffentlichkeit ermöglicht dem frisch gegründeten Zentralrat der Sinti und Roma und dessen Vorsitzenden, Romani Rose, das eingangs erwähnte Treffen mit dem Bundeskanzler. Am 17.03.1982 trifft Romani Rose Helmut Schmidt im Bundeskanzleramt in Bonn zum offiziellen Gespräch.

[Romani Rose:]

„Wir alle waren natürlich sehr angespannt, sehr innerlich, sehr aufgeregt und aufgewühlt, weil der Nationalsozialismus hat einen Bruch entstehen lassen zwischen unserer Minderheit und dem Selbstverständnis, Deutsche zu sein. Und in diesem Gespräch mit Helmut Schmidt, der ja eben in seiner Art auch sehr staatsmännisch, sehr klar aufgetreten ist. Die Erwartungen, die wir hatten, die waren ja im Wesentlichen schon vorbereitet. Es gab dann nochmals ein Gespräch über die Situation der Minderheit heute und natürlich nochmals der klare Anspruch, Holocaust heißt auch die Vernichtung einer halben Million Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa.“

Die Forderungen sind für den Zentralrat und Romani Rose essenziell und umfassen die Anerkennung als nationale Minderheit und der NS-Verbrechen als Völkermord, der Verbesserung von Lebensbedingungen und Wiedergutmachungsregelungen, der Förderung ihrer Kultur. Der Bundeskanzler scheint für die Anliegen ein offenes Ohr zu haben. Dabei ist den Aktivisten wichtig, nicht auf Konfrontationskurs zu gehen, für Romani Rose selbst ist die Anerkennung als deutscher Sinto wichtig.

[Romani Rose:]

„In diesem Gespräch haben wir auch Helmut Schmidt eine Geige überreicht. Es war eine ältere Geige gewesen – eine Symbolik, für die unsere Minderheit in der deutschen oder in der europäischen Öffentlichkeit sehr oft wahrgenommen wird. Und das war ein Symbol von unserer Seite. Wissen Sie, unsere Eltern hatten sich entschieden, nach dem Holocaust weiter in diesem Land zu bleiben und damit haben sie auch an die Zukunft geglaubt. Unsere Verfassung, die sich die Bundesrepublik als Rechtsstaat gegeben hat, war eine gute Verfassung. Sie hat die Erfahrungen aus der Geschichte aufgegriffen. Ich erwähne einen wichtigen Artikel: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘“

Schmidt hört zu und erkennt im Gespräch und später öffentlich den Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja an. Er erklärt:

„Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.“

Es ist ein Erfolg für die Bürgerrechtsbewegung. Neben der späten Anerkennung hat das Treffen auch direkte praktische Auswirkungen auf die Entschädigungsverfahren. Denn im Verlauf der nächsten Jahre übergibt der Zentralrat Akten von über 525 Wiedergutmachungsfällen an die jeweiligen Landesbehörden, um doch noch Renten nach dem Bundesentschädigungsgesetz durchzusetzen.

[Romani Rose:]

„Sie sind neu entschieden worden, positiv entschieden worden. Die Leute bekamen Renten, Anerkennung für ihr schlimmes Verfolgungsschicksal. Die in Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Buchenwald, Ravensbrück und so weiter waren. Und es setzte dann eine positive Entwicklung auch in den Landesentschädigungsämtern ein, dass man auch bemüht war, Fälle, die von uns noch nicht dokumentiert waren, aufzuarbeiten, neu zu entscheiden. Natürlich konnte man den Tod der Eltern, der Großeltern, der Kinder mit Entschädigung nicht wiedergutmachen und viele wollten sich den Tod ihrer Angehörigen auch nicht bezahlen lassen. Die haben, das waren auch meine Eltern, verzichtet. Aber wissen Sie, die Frage der Entschädigung war für uns nicht die grundlegende Frage. Die grundlegende Frage war das Vertrauen in den Rechtsstaat zu schaffen.“

Romani Rose und Helmut Schmidt bleiben übrigens nach dem Treffen zeitlebens in Kontakt.

[Romani Rose:]

„Was mich ganz besonders gefreut hat und worauf ich sehr, sehr stolz bin: Ich habe mit Helmut Schmidt vier Menthol Zigaretten geraucht, und das habe ich auch mit Stolz meinen Söhnen erzählt.“

[Musikalischer Übergang]

Sinti*zze und Rom*nja, aber auch Homosexuelle oder Zwangsarbeiter sind auch in der Bundesrepublik Diskriminierung und teilweise Verfolgung ausgesetzt gewesen. Der Umgang mit den sogenannten „Vergessenen Opfern“ ist wohl eines der Kapitel der bundesdeutschen Geschichte, das eindrucksvoll zeigt, dass rassistische Klischees und Zuschreibungen tief in der Gesellschaft verankert waren – vor, während und nach der NS-Diktatur. Und dass das entsprechend auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten von Betroffenen hatte, Anerkennung bei der Wiedergutmachung zu finden.

Regelungen zur Anerkennung und Entschädigungen dieser Opfergruppen werden erst in den 1980er und 1990er Jahren geschaffen. Und staatliche Institutionen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Stigmatisierungen über Jahrzehnte erhalten blieben. Einen wesentlichen Anteil daran hat das skandalöse Urteil von 1956. Bettina Limperg, Präsidentin des Bundesgerichtshofs:

[Bettina Limperg:]

„Und das ist das, was einen überrascht. Es ist aber auch in der Öffentlichkeit im Grunde nicht diskutiert worden. Es ist in der Wissenschaft nicht diskutiert worden, und auch der Gesetzgeber hat auf dieses Urteil nicht reagiert. Der Gesetzgeber hätte ja sagen können: Halt, stopp! Wir stellen das durch einen gesetzgeberischen Akt klar, dass das eine Verfolgung aus rassischen Gründen war. Das hat der Gesetzgeber auch versäumt.“

Letztlich beginnt ein Umdenken erst mit den Bürgerrechtsbewegungen und den sich gründenden Organisationen wie dem Zentralrat der Sinti und Roma.

[Romani Rose:]

„Ich habe mich nicht als Bürgerrechtler gesehen, sondern ich habe mich als jemand gesehen mit Emotion, der diese Diskrepanz der historischen Aufarbeitung, die für ihn kein Fundament eines überzeugenden Willens war, sondern man sich lediglich der Situation gebeugt hat.“

Und heute? Endlich alles im Reinen, was diese Fragen betrifft?

Ja und Nein. Die staatliche Sicht hat sich jedenfalls gewandelt. Das sagt Markus Metz, vom Zentralrat der Sinti und Roma

[Markus Metz:]

„Soweit muss man auch in der Retrospektive sehen, dass hier sich seit Beginn meiner Tätigkeit – das ist nicht mein Verdienst, aber ich durfte das verfolgen – sich eine enorme Entwicklung getan hat. Zu Beginn hat uns der Freistaat als Randgruppe wahrgenommen. Man muss es so sagen. Und heute merkt man einfach, dass es gegenüber der Minderheit nicht nur anlässlich von Gedenktagen eine ausgesprochene Wertschätzung auch gibt.“

Romani Rose sieht das ganz ähnlich. Auch für ihn ist die aktuelle Situation staatlicherseits beispielhaft in ganz Europa. Aber:

[Romani Rose:]

„Natürlich gibt es in der Bundesrepublik immer noch Antiziganismus. Wir haben im vergangenen Jahr einen Bericht vorgestellt, der Bericht wurde von mir und von der Meldestelle gegen Antiziganismus vorgestellt und in diesem damaligen Bericht vor einem Jahr waren es 621 Fälle. Zwischenzeitlich wissen wir, dass wir in diesem Jahr wiederum den neuen Bericht vorstellen, und da werden es über 1000 Fälle sein. Das hängt aber vor allen Dingen mit der Situation zusammen, dass wir wiederum einen neuen Nationalismus und eine neue Form von Neonazismus haben, die sich auch wieder mit Gewalt gegen Menschen zeigen, anderer Herkunft, aber auch gegen die Politik.“

[Musikalischer Übergang]

Das war „The German Wiedergutmachung“. Bis hierhin haben wir uns in den ersten drei Folgen genauer angeschaut, wie der Staat und die Gesellschaft mit Menschen umgegangen sind, die vom Nationalsozialismus verfolgt wurden, welche politischen und gesellschaftlichen Hintergründe die Wiedergutmachung beeinflussten.

Die Akten des Bundesarchivs und die Millionen Einzelfallakten lassen uns mit dieser Entwicklung in direkten Kontakt treten. So kann jede und jeder von euch selbst nachlesen und den Kontext nachvollziehen. Und sich so mit der Gesamtsituation wie auch mit den einzelnen Schicksalen auseinandersetzen, den Schicksalen der Entschädigung und – durch die Wiedergutmachungsakten – mit den Verfolgungsschicksalen.

„The German Wiedergutmachung“ – Ein Podcast des Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Das Themenportal ist ein Kooperationsprojekt vom Bundesarchiv, dem Landesarchiv Baden-Württemberg und FIZ Karlsruhe im Archivportal-D. Initiiert wurde und finanziert wird es vom Bundesministerium der Finanzen.

Wenn euch dieser Podcast gefallen hat, dann empfehlt ihn gerne weiter oder bewertet ihn. Wenn ihr Feedback oder Fragen dazu habt, dann sendet gerne eine Mail an: portal-wiedergutmachung@bundesarchiv.de. Ihr findet in den Shownotes nochmal ganz viel Material zu den Themen. Weitere Infos gibt’s auch auf www.archivportal-d.de.

„The German Wiedergutmachung“ ist eine Produktion von Escucha – Kultur fürs Ohr im Auftrag des Bundesarchivs. Ich bin Nora Hespers. Redaktion: Lukas Fleischmann, Jörn Petrick, Ralph Würschinger und Mirjam Sprau. Skript und Produktion: Escucha – Kultur fürs Ohr. Cover: Hauer + Dörfler.

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